Barry Eichengreen: The European Economy Since 1945. Coordinated Capitalism and Beyond, Oakland: University of California Press 2007, xx + 495 S., ISBN 978-0-691-12710-1, GBP 22,95
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Dieses Buch war überfällig: Mehr als 30 Jahre nach dem Ende des Golden Age und etwa 15 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Planwirtschaften in Mittel- und Osteuropa war es an der Zeit, die Wirtschaftsgeschichte Europas nach 1945 als eine eigene Epoche und vor allem unter Einbeziehung aller geografischen Regionen zu analysieren. Bisher wurde die europäische Wirtschaftsgeschichte dieses Zeitabschnitts meist als Teil des "kurzen" 20. Jahrhunderts insgesamt betrachtet. [1] Dass sich der renommierte Ökonom und Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen von der University of California in Berkeley des Themas angenommen hat, erhöht die Erwartungen der Leser. Er ist bisher mit Studien zur internationalen Wirtschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der Zwischenkriegszeit ebenso wie der Nachkriegszeit hervorgetreten, wobei er sich vor allem für die Funktionsweise der internationalen Währungssysteme und deren Konsequenzen für die Wirtschaft und die Politik der einzelnen Länder interessierte.
Mit dem vorliegenden Buch knüpft er insbesondere an zwei frühere Aufsätze an. [2] Dort räumte er zum einen den korporatistischen Institutionen und der europäischen Integration einen besonderen Stellenwert für die Generierung dauerhaften Wirtschaftswachstums ein. Zum anderen interpretierte er das erste Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Phase extensiven Wachstums und die danach folgenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten als eine Folge des Übergangs vom extensiven zum intensiven Wachstum. Damit sind bereits zwei wesentliche Interpretamente des Bandes - die Institutionen sowie der Übergang vom extensiven zum intensiven Wachstum - angeführt. Als drittes kommt hinzu, dass Eichengreen aus der transatlantischen Perspektive immer wieder die USA als Referenzökonomie heranzieht, wie das auch für die wirtschaftliche Entwicklung im Untersuchungszeitraum - zumindest in Westeuropa - prägend war.
Er hat es sich mit diesem Band zur Aufgabe gemacht, das 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg anhaltende Golden Age des Wirtschaftswachstums und dessen nachfolgenden Rückgang zu erklären. Es will also analysieren, warum sich die jährlichen durchschnittlichen Zuwachsraten des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts in der Periode 1973-2000 gegenüber dem Zeitabschnitt 1950-1973 mehr als halbierten. Im Kern argumentiert Eichengreen, dass Europa nach dem Krieg zunächst ein Rekonstruktions- und Aufholpotenzial gegenüber den USA hatte, welches aber bestimmter Bedingungen und Konstellationen bedurfte, damit es tatsächlich ausgenutzt werden konnte. Dazu gehörte seines Erachtens an erster Stelle das Institutionengefüge, das die Zusammenarbeit von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Regierungen sicherte, um Ersparnisse zu mobilisieren, Investitionen zu finanzieren und die Einkommen auf einer Höhe zu stabilisieren, die Vollbeschäftigung garantierte. Das auf dieser Basis entfaltete extensive, vor allem von den Investitionen und dem Export getragene Wachstum erreichte dann aber spätestens Anfang der 1970er-Jahre seine Grenzen: Um weiter ähnliche Zuwachsraten zu garantieren, war nun ein Übergang zum intensiven, von grundlegenden Innovationen gestützten Wachstum notwendig. Dabei erwies sich aber gerade dieses korporatistische Institutionengefüge als Hindernis.
Ähnliches zeigte sich im Ostblock, wo sich die Planwirtschaft nach sowjetischem Muster in den größtenteils agrarisch geprägten Ländern als ein Instrument erwies, mit dem die Industrialisierung unter Inkaufnahme eines nur beschränkt zunehmenden Lebensstandards der Bevölkerung vorangetrieben werden konnte. Aber diese verhinderte ebenso den später erforderlichen Übergang zum intensiven Wachstum, was im Zusammenspiel mit verschiedenen anderen, auch politischen Faktoren schließlich zum Zusammenbruch des Systems führte. Diese hier verkürzte Argumentation klingt zunächst nur in Teilen innovativ, aber wie Eichengreen diese in den 13 Kapiteln des Bandes im Detail entfaltet, offenbart manchen inzwischen vergessenen Zusammenhang, wie beispielsweise den zwischen der korporatistischen Lohnfindung in einigen Ländern und deren erfolgreichen exportgestützten Wachstum, was sich zugleich als Bremse für einen späteren institutionellen Wandel erwies.
Abschließend scheut er auch nicht davor zurück, die Möglichkeiten zu erörtern, das Wachstum in Europa wieder zu beschleunigen und vor allem die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und insofern auch Prognosen zur Zukunft des europäischen Modells abzugeben. Dabei gibt er natürlich keine einfachen Antworten: Unter dem Druck eines weiter raschen technologischen Fortschritts und einer nach wie vor voranschreitenden Globalisierung bedürfe Europa institutioneller Reformen, die kurzfristig eher zu Enttäuschungen führen dürften, aber mittelfristig das Wachstum wieder erhöhen können. Langfristig sieht Eichengreen jedoch keinen Grund dafür, von einer Krise der europäischen Wettbewerbsfähigkeit auszugehen, da deren grundlegende Voraussetzungen nach wie vor gegeben seien.
Methodisch steht eine Darstellung zur europäischen Wirtschaftsgeschichte vor dem Problem, sich nicht an einer kompendienähnlichen Präsentation der Entwicklungen in den einzelnen Ländern zu erschöpfen, diese aber zugleich nicht aus dem Blick zu verlieren, wobei ohnehin nicht alle Länder gleichermaßen behandelt werden können. Eichengreen löst diese Schwierigkeit, indem er übergreifende Problemkomplexe bzw. -konstellationen zusammenfassend darstellt und dabei zum Teil recht detailliert auf die Prozesse in einzelnen Ländern eingeht. Zudem nehmen entsprechend seiner Forschungsschwerpunkte Fragen der internationalen Zusammenarbeit sowie der Wirtschafts- und Währungsintegration als übergreifende Prozesse großen Raum ein. Auf diese Weise gelingt es ihm, Europa insgesamt und die einzelnen Länder in der Untersuchung recht gut auszubalancieren. Auffällig ist allerdings, dass die Ausführungen zu den Entwicklungen im Ostblock vergleichsweise kurz ausfallen, im Unterschied zu Westeuropa auf die genauere Darstellung zu einzelnen Ländern weitgehend verzichtet wird und mehr die übergreifenden Tendenzen herausgearbeitet werden. Dadurch bleiben die Aussagen hierzu aber unscharf und mitunter sind sie sogar schief, weil Entwicklungen in einzelnen Ländern zu undifferenziert auf den gesamten Ostblock bzw. auf alle Transitionsökonomien übertragen werden.
Eichengreen versteht es, die Ergebnisse der von ihm in breitem Maße herangezogenen wirtschaftswissenschaftlichen Studien in einer klaren und auch für Nicht-Ökonomen verständlichen Sprache darzustellen. Als ein Manko erweist sich allerdings, dass die gesamte Darstellung lediglich auf der englischsprachigen Literatur beruht, die allerdings in einem Literaturverzeichnis auch gesondert dokumentiert ist, was bei Büchern aus dem angelsächsischen Raum inzwischen positiv vermerkt werden muss. Das ergänzende, ausführliche Register gehört dort hingegen eher zum Standard als im deutschsprachigen Raum. Natürlich ist auch diese anregende Überblicksdarstellung nicht frei von Ungenauigkeiten im Detail und einzelnen Widersprüchen im Text, die aber den Gesamteindruck nicht trüben können: Der Band stellt alles in allem eine gelungene Zusammenfassung unseres Kenntnisstandes zur europäischen Wirtschaftsgeschichte nach 1945 dar, aber nicht nur das, er bereichert ihn auch wesentlich.
Anmerkungen:
[1] Siehe u. a. jüngst: Ivan T. Berend: An Economic History of Twentieth-Century Europe. Economic Regimes from Laissez-Faire to Globalization, Cambridge 2006. Vgl. auch: Derek H. Aldcroft: The European Economy 1914-1990, London 1993.
[2] Barry J. Eichengreen: Institutions and Economic Growth: Europe after World War II, in: Economic Growth in Europe since 1945, hrsg. von Nicholas Crafts und G. Toniolo, Cambridge 1996, 38-72; Barry J. Eichengreen: Innovation and Integration: Europe's Economy Since 1945, in: Europe since 1945 (The Short Oxford History of Europe), hrsg. von Mary Fulbrook, Oxford 2001.
André Steiner