Susanne Strätling: Allegorien der Imagination. Lesbarkeit und Sichtbarkeit im russischen Barock (= Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste; Bd. 111), München: Wilhelm Fink 2005, 452 S., ISBN 978-3-7705-4123-2, EUR 60,00
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Wie sehr die visuelle Kultur der Frühen Neuzeit als gesamteuropäisches Phänomen aufgefasst und untersucht werden muss, bestätigen die Ergebnisse der Studie von Susanne Strätling "Allegorien der Imagination. Lesbarkeit und Sichtbarkeit im russischen Barock." In den letzten Jahren sind einige relevante Studien erschienen, die den Blick von der westeuropäischen Perspektive auf Nord- sowie Zentral- und Osteuropa erweitert haben. Strätlings Buch ist ein wertvoller Beitrag zu dieser Diskussion, zumal die aufgewiesenen Befunde in ihrer Arbeit sich auf bislang kaum zugängliche Manuskripte und Archivmaterialien in russischen Bibliotheken stützen.
Strätling entwickelt in ihrem Buch die These, dass der Umbruch in der visuellen Kultur mit der Einführung von Buchdruck und Zentralperspektive, wie er im westlichen Europa stattgefunden hatte, in Russland innerhalb weniger Jahrzehnte nachgeholt wurde. Wesentlich für den signifikanten epistemischen Wandel im russischen Barock in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die lang anhaltende Dominanz der spätmittelalterlichen Ikonenverehrung sowie der Schriftfixierung des sakralen Ritus, während im übrigen Europa theoretische und theologische Debatten über die Legitimität der Verwendung von Bildern geführt wurden. Weitgehend unberührt von der protestantischen Adiaphora-Diskussion und der reformierten Bilderfeindlichkeit, die zu gewaltsamen Bilderstürmen führte, leitet sich die russische ikonische Tradition des geistigen Vor-Augen-Stellens von einer mittelalterlichen bildrituellen Praxis ab, die auch in der katholischen, zumal jesuitischen, ikonographischen Anwendung fortgeführt wurde, welche verstärkt emblematische und allegorische Bilder und visionäre Schau in den religiösen Exerzitien propagierte und sakrale Bildlichkeit als Propaganda- und Erziehungsinstrument einsetzte.
Den theoretischen Rahmen für diese separate Entwicklung im russischen Barock zu markieren, ist ein Verdienst dieser Untersuchung. Basierend auf der Analyse von Texten des russischen Barock, darunter unveröffentlichte illustrierte Manuskripte, von Autoren wie Medvedev, Polockij, Usakov und anderen im Zeitraum von 1660 bis 1700, untersucht Strätling die Verflechtung von Bild und Text anhand der rhetorischen Figur der Allegorie. Der literaturtheoretische Ansatz der Studie stützt sich auf neuere Forschungen zur Theorie der Allegorie, Mnemonik, Rhetorik und literarischen Kommunikation, die sich besonders an den Allegorietheorien von Walter Benjamin und Paul de Man orientieren.
Die literarische Figur der Allegorie dient als Katalysator für die Entwicklung einer komplexen Theorie und Praxis von Bildlichkeit und Schrift im russischen Barock, die sich einerseits aus der schriftzentrierten altrussischen Kultur speist, aber zugleich eine stark optisch orientierte Barockkultur propagiert. Strätling beschreibt die Überschneidung und Verflechtung solcher "schriftorientierter Bilderkonzepte und bildorientierter Schriftkonzepte" anhand der Wahrnehmungs- und Darstellungsmodelle in Bild- und Literaturtheorie. Die "Lesbarkeit der Dinge" und die "Sichtbarkeit der Schrift" sind die zentralen Themen des Buches, das sich in drei Teile gliedert: Sprachfiguren, Sehfiguren, Lesefiguren. Jeder dieser Schwerpunkte bezeichnet wesentliche Einschnitte und Umbrüche, die in den Bereichen der Rhetorik, der Kunstauffassung und des Buchdrucks stattfinden.
Der erste Teil stellt die zentrale Funktion der Allegorik und topologischen Bildlichkeit in der rhetorischen Theorie des frühen Barock heraus und beschreibt die Rolle des Körpers als Figur und Metapher. Im zweiten Teil stehen die "Sehfiguren" zur Diskussion, in denen Visualisierung und Imagination zum Ausdruck kommen. Ein Unterkapitel zeichnet hier die semantische Karriere des Lexems "voobraženie" nach, dessen Bedeutung sich von "Darstellung" zu "Einbildung" bzw. "Einbildungskraft" verschiebt, was bezeichnend für die Relevanz dieser Begriffe in ästhetischen Diskurs ist. Daran anknüpfend werden in weiteren Kapiteln anhand von Ikonentraktaten des 17. Jahrhunderts die epistemische Verschiebung vom Kultbild zum Kunstbild und die theatralischen Inszenierungen von Bildlichkeit thematisiert. "Lesefiguren" sind der Fokus des dritten Teils, darunter Embleme, illustrierte Fibeln und Figurengedichte, in welchen die Materialisierung von Worten im Bild und die bildliche Darstellung von Schrift diese als Schriftkunst optisch erfahrbar werden lassen. Die Technologie des Buchdrucks und der Reproduzierbarkeit von Bildern spielen hierbei eine wesentliche Rolle für das experimentelle Durchspielen der Materialität und Medialität der Schrift und des Bildes. Das abschließende Kapitel "Idolatrien des Unsichtbaren in der Schrift" fasst die Problemstellungen der komplex verschränkten Fragenhorizonte zusammen. Eine Bibliografie der gedruckten Quellen und Archivmaterialien sowie ein umfangreiches Register schließen den reich bebilderten Band ab.
Strätlings Buch stellt die - in sich selbst oft widersprüchliche - Konkurrenz von Text und Bild bzw. von Lesen und Sehen dar, wobei zwar der Fokus auf der literarischen Figur und rhetorischen Verwendung von Bildlichkeit liegt, sich aber herausschält, dass im Barock eine zunehmende Aufmerksamkeit auf die Perzeption gerichtet ist. Dies zeigt sich besonders in den Beispielen von emblematischen Illustrationen und Titelblättern, die sowohl in Manuskripten als auch in gedruckten Büchern eine Konkretisierung und Materialität der allegorischen Bildlichkeit manifestieren. Hier ist nun die von der literarischen Figur ausgelöste innere Schau der Imagination materialisiert und in einem Holzschnitt oder Kupferstich konkret vor Augen gestellt. Es ist daher etwas überraschend, dass Strätling diesen Formen in der theoretischen Analyse nicht mehr Raum gibt.
Die Gattung der volkstümlichen Bilderbögen (Lubok) etwa ist nur am Rande erwähnt. Diese massenproduzierten Bilder mit integrierten Texten wären ein lohnendes Objekt weiterer Untersuchungen in diesem Kontext, zumal die Themen, etwa Bibelgeschichten, mythologische Erzählungen und Satiren, gerade die Repräsentationen vor Augen gestellter Geschichten darstellen. Die Bilder von Fabelwesen, Protagonisten aus Mythologie und Geschichte sind meist aus textlichen Vorgaben abgeleitet und theatralisch präsentiert, besonders dort, wo in mittelalterlicher Manier seriell erzählt und szenisch dargestellt wird. Der Emblematik als einer bi-medialen Subkategorie der Allegorie, in der das Konkretum als res significans bildlich in einer konkreten Darstellung ausgedrückt ist, ist nur ein kurzes Kapitel gewidmet, das hinter dem aktuellen Stand der Forschung zurückbleibt. Die Einbeziehung neuerer Arbeiten zur Emblematik und Emblemtheorie hätte die Argumente Strätlings nur stützen können.
Davon abgesehen, kann die komplexe und materialreiche Analyse als ein wichtiger und ausgezeichneter Beitrag zur visuellen Theorie und Praxis der Frühen Neuzeit gewertet werden, nicht nur für die Fächer der Russistik und Slavistik, sondern auch für die Barockforschung in den Bereichen der Literaturtheorie und Rhetorik sowie der Kunst- und Kulturgeschichte und der Medientheorie.
Sabine Mödersheim