Heinz Schilling / Stefan Ehrenpreis (Hgg.): Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichender Perspektive. Schulwesen, Lesekultur, und Wissenschaft (= Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 38), Berlin: Duncker & Humblot 2007, VIII + 309 S., ISBN 978-3-428-12386-5, EUR 54,00
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Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf eine im Dezember 2002 in der Johannes a Lasco-Bibliothek in Emden veranstalteten Tagung "Bildung und Erziehung im frühneuzeitlichen Europa - Schulwesen, Wissenschaft und Lesekultur" zurück. Ein bereits 2003 erschienener Vorgängerband erörterte zunächst methodische Fragen der Erforschung des frühneuzeitlichen Schul- und Bildungswesens und stellte wichtige bibliografische Hilfsmittel für die Beschäftigung mit diesem Themenkomplex zur Verfügung. [1] Darauf aufbauend sollen die nun vorliegenden Beiträge "an zentralen Frage- und Problemstellungen den Beitrag der Reformierten zur europäischen Erziehungspraxis" (Vorwort der Herausgeber, V) in der Frühen Neuzeit untersuchen.
Stefan Ehrenpreis versucht in seinem einführenden Beitrag eine verbindende Brücke zwischen den thematisch sehr unterschiedlichen Teilen des Buches herzustellen. Er plädiert dabei für eine "integrierte Sozialisations-, Erziehungs- und Schulgeschichte" (2), in deren Rahmen auch die Erforschung konfessioneller Erziehung sowohl auf normativer als auch auf praktischer Ebene besondere Beachtung verdient habe. Die Erforschung konfessioneller Denkweisen und Erziehungsmodelle kann dabei nicht nur beschränkt auf das in der frühen Neuzeit nur schwach institutionalisierte und selten breitenwirksame öffentliche Schulwesen erfolgen. Die Einbeziehung kirchlicher, privater und familiärer Erziehungspraktiken (z.B. Katechese) sei von ebenso zentraler Bedeutung, so Ehrenpreis, wie eine konsequent konfessionsvergleichende Zugangsweise. Das leuchtet ein, ist doch in der Forschung bis heute die Annahme weit verbreitet, der Calvinismus habe sich durch ein besonders ausgeprägtes öffentliches Interesse für Erziehungsfragen in den Gemeinden ausgezeichnet und eine strenge "Schulzucht" praktiziert. Nicht zuletzt der Überprüfung dieser Annahme gilt die Aufmerksamkeit des vorliegenden Bandes.
Robert M. Kingdon richtet in seinem Beitrag über "Popular Religious Education in Calvin's Geneva" den Blick auf das Zentrum des westeuropäischen Calvinismus. Er weist dabei nach, dass es im Verlauf der Genfer Reformation zwar ein starkes Bedürfnis nach "a new system of religious education" in Form der Katechese gab. Das inhaltliche Profil dieser intensivierten Unterweisungspraxis unterschied sich aber nur in wenigen Aspekten von der vorreformatorischen Zeit, so Kingdon.
Einen Einblick in das Bildungswesen Zürichs gibt Anja-Silvia Göing in ihrer Studie über "Stipendien für Studierende des Zürcher Großmünsterstifts an auswärtigen Hochschulen". Sie untersucht die Stipendienvergabe an Zürcher Lateinschüler und arbeitet für den Zeitraum 1550 bis 1575 die Reiserouten der Universitätsbesucher und damit die Raumbeziehungen des Bildungswesens der Stadt heraus. Zu den bevorzugten Studienorten gehörten Genf, Lausanne, Basel, Marburg, aber auch das Zentrum des Luthertums: Wittenberg in Kursachsen.
Die beiden Beiträge von Leendert F. Groenendijk ("Die reformierte Kirche und Schule in den Niederlanden während des 16. und 17. Jahrhunderts") und Dirk Van Miert ("The Reformed Church and Academic Education in the Dutch Republic 1575-1686") richten den Blick auf das reformierte Schulwesen in der Niederländischen Republik. Groenendijk betont das nachhaltige Interesse der lokalen Kirchenräte und der regionalen Provinzialsynoden an der Rechtgläubigkeit der schulischen Unterweisung, das seinen Niederschlag in einem stark normierten intensiven Katechismusunterricht gefunden habe. Eine regelrechte "katechetische Offensive" verortet er in den 1650er- und 60er-Jahren, wobei sich die Frage stellt, ob über neue Anweisungen und Ordnungen hinaus auch die Verbesserung der Unterrichtsdichte und Unterweisungserfolge nachweisbar ist. Van Miert illustriert die Expansion des gelehrten Bildungssektors, in dem er die zwischen 1575 und 1686 gegründeten fünf Universitäten und zehn akademischen Gymnasien in Kurzporträts vorstellt. Ähnlich wie Groenendijk arbeitet er dabei die regionale und lokale Verankerung des Bildungswesens in den Provinzen heraus. Regionale Differenzen bestanden auch hinsichtlich der Einflussnahme der Kirche auf das gelehrte Bildungswesen, wobei er ihr insgesamt nur "limited power over the educational system" (94) zuschreibt.
Stefan Ehrenpreis beschäftigt sich in seinem Beitrag in einem weiten zeitlichen Bogen (1570-1750) mit dem Schulwesen reformierter Minderheiten im Alten Reich. Er wählt dafür sehr unterschiedliche Fallbeispiele: die katholische Reichsstadt Köln und das Herzogtum Berg sowie das evangelische Nürnberg mit seinen fränkischen Nachbarterritorien. Aufgrund ihres Minderheitenstatus konnte das reformierte Schulwesen hier nur in den Gemeinden verankert werden. Deshalb kam es auch zur engen Verzahnung von schulischer und katechetischer Unterweisung. Während das Schulwesen in den beiden Städten Köln und Nürnberg privat getragen wurde, existierten in Landgemeinden mit reformierter Mehrheit öffentliche Schulen.
Im zweiten Abschnitt des Bandes wurden die Beiträge von Jürgen Overhoff ("Das lutherische Schulwesen Dänemarks im 17. und 18. Jahrhundert"), Andreas Eckert ("Europäische Bildungsbemühungen im vorkolonialen Kontext") und Iris Gareis ("Koloniale Bildungspolitik und indigene Eliten in Peru, 16-18. Jahrhundert") aufgenommen. Für sich genommen sind diese Beiträge zweifellos gewinnbringende Fallstudien. Die angestrebten "interkonfessionellen und außereuropäischen Vergleichsperspektiven" stellen sich allerdings nur bedingt ein. Overhoff schildert die "bedeutsamsten Reformperioden des dänischen Schulwesens der Frühen Neuzeit" (126) (u. a. im Schnittfeld von Pietismus, Philantropinismus und Aufklärung), beschränkt sich dabei aber allein auf die normativ-obrigkeitliche Ebene, ohne die tatsächliche Umsetzung dieser Reformprogramme in der Schulpraxis zu klären. Als Fazit des Beitrages von Andreas Eckert kann festgehalten werden, dass es während der europäischen Expansion in Afrika und Asien erst im 19. Jahrhundert zu eigenständigen Bildungsanstrengungen gekommen ist. Hingegen zeigt Iris Gareis, dass in Südamerika bereits im 16. Jahrhundert Schulgründungen im Zusammenhang mit der Mission nachweisbar sind. Besondere jesuitische Schulen (Kazikenkollegs) dienten der Herausbildung zukünftiger Eliten aus der indigenen Bevölkerung. Die Autorin zeigt auch, wie es diesen Gruppen gelang, die Schulen für die eigenen Interessen zu instrumentalisieren.
Die in der dritten Sektion des Bandes versammelten Beiträge zur frühneuzeitlichen Lesekultur und Wissenschaft sollen den Kontext abstecken, in dem konfessionelle Erziehung in der Frühen Neuzeit angesiedelt war. Willem Frijhoff ("The Confessions and the Book in the Dutch Republic") setzt sich mit der These auseinander, der Calvinismus habe eine spezifische Lesekultur ausgebildet. Frijhoff relativiert diese Annahme. Buchbesitz und Lesekultur müssen in der hoch entwickelten städtischen Lebenswelt der Niederlande mit ihren spezifischen Anforderungen in Verwaltung, Handel und Gewerbe verortet werden. Hier war die Konfessionszugehörigkeit nur ein Faktor unter anderen. Adam Fox thematisiert komplementär dazu den Zusammenhang von "Popular Religion and Popular Print in Early Modern England" und stellt dabei Untersuchungsergebnisse über die hohe Verbreitung preiswerter Drucke und erschwinglicher Lesestoffe in England vor, zu denen auch besonders Katechismen gehörten.
In einer fast vierzigseitigen Studie nähert sich Matthias Pohlig dem Spannungsfeld "Konfessionalisierung und frühneuzeitliche Wissenschaft". Auch hier dient die Hypothese von der angeblichen Modernität des Calvinismus als Ausgangspunkt. Nach sehr ausführlichen theoretischen Überlegungen zur Anwendbarkeit des Konfessionalisierungsparadigmas in der Wissenschaftsgeschichte betont Pohlig die durchaus produktiven Folgen der Konfessionalisierung für die Wissenschaftsentwicklung. Es habe schon für die Zeitgenossen eine "Komplementarität [...] zwischen Religion und Wissenschaft" (251) bestanden, die bei der Erklärung der hohen Leistungsfähigkeit der konfessionell verfassten Universitäten um 1600 herangezogen werden müsse.
Monika Mommertz lenkt schließlich den Blick auf die Formen privater Wissensvermittlung in der Vormoderne, über die in der Forschung im Gegensatz zu den tendenziell überschätzten öffentlichen Bildungseinrichtungen noch immer wenig bekannt ist. Unter dem Titel "'Lernen' jenseits von Schule, Stift und Universität?" fragt sie nach privaten informellen "Lernverhältnissen", in denen Wissen weitgegeben wurde. "Räume" des Lernens konnten wissenschaftliche Gesellschaften, Handel und Gewerbe, aber auch Haushalt und Familie sein.
Insgesamt betrachtet findet in dem vorliegenden Band ein in der bildungsgeschichtlichen Forschung seit einigen Jahren verstärkt hervortretendes Interesse an den konfessionellen und säkularen gesellschaftlichen Kontexten des frühneuzeitlichen Schulwesens seinen Niederschlag. Die Autoren richten den Blick auf die konfessionelle Gebundenheit des Erziehungswesens, ohne die ein Verständnis der vormodernen Bildungsvermittlung nicht möglich ist. Das Buch bietet zudem erste Ansätze für eine konfessionsvergleichende Perspektive. Es zeigt allerdings auch, wie schwierig es nach wie vor ist, jenseits der normativen Ebene auch die vielbeschworene "Schulwirklichkeit", also die tatsächliche Situation im Erziehungs- und Schulwesen, in den Blick zu bekommen.
Anmerkung:
[1] Heinz Schilling / Stefan Ehrenpreis (Hgg.): Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsperspektiven, europäische Fallbeispiele und Hilfsmittel, Münster 2003.
Thomas Töpfer