Michael Rohrschneider / Arno Strohmeyer (Hgg.): Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert (= Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte; Bd. 31), Münster: Aschendorff 2007, VIII + 402 S., ISBN 978-3-402-05682-0, EUR 49,00
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Man könnte meinen, dass sich angesichts der Intensivierung der Kommunikation innerhalb Westeuropas und über diesen Raum hinaus seit dem 16. Jahrhundert die Frage nach der Bewältigung von Differenzerfahrungen auch für den Bereich der Diplomatie eigentlich schon lange hätte aufdrängen müssen. Dass dem nicht so ist, konstatiert zu Recht Arno Strohmeyer in seiner Einleitung zu den Akten der von ihm, Maximilian Lanzinner und Michael Rohrschneider 2005 in Bonn durchgeführten Tagung. Seiner Feststellung, dass "die Fremdwahrnehmungen frühneuzeitlicher Diplomaten nach wie vor zu einem über weite Strecken unbearbeiteten Forschungsfeld zählen", ist ebenso zuzustimmen wie der Diagnose eines "ausgesprochenen Mangels" "an systematischen und komparatistischen Untersuchungen" (4-5).
Doch inwiefern vermag der zu besprechende Band über die solide dokumentierte Fallstudie hinaus weiterführende methodische Anregungen und Grundlagen für die angemahnten "systematischen und komparatistischen Untersuchungen" zu vermitteln? Inwiefern leisten die Beiträge die angemahnte Verknüpfung von diplomatiegeschichtlicher Forschung und historischer Anthropologie?
Einen provokativen Einstieg in die Problematik bietet der Beitrag von Wolfgang Reinhard, der am Beispiel der Nuntiaturberichte den Versuch einer historischen Anthropologie frühneuzeitlicher Diplomatie unternimmt. Reinhard plädiert dafür, Diplomatie als "kulturell geregeltes Feld politischen Verhaltens" und "anthropologischen Untersuchungsgegenstand eigenen Rechts" zu verstehen (53). Zum Brennpunkt der Fragestellung machen solle man dabei die "Borniertheit" des Blickes auf Andere - die dabei zu beobachtende "Projektion des Eigenen" - und nicht etwa "eine angebliche Fremdwahrnehmung", die "kaum stattgefunden" habe (59). Den Nuntien sei "der mögliche Sinn des Fremden verborgen" geblieben, weil sie diesen aufgrund ihres eigenen "Sinnhorizontes als Kuriale und Italiener" überhaupt nicht hätten sehen können (67). Muss man also mit Reinhard zur paradoxen Schlussfolgerung gelangen, eine Form der Kommunikation "im Modus der Wahrnehmungsverweigerung" habe den Erfolgen der Nuntien nicht im Wege gestanden (71)? Sind die nach diesem Modus abgefassten Berichte nicht vielmehr als Bestandteile von Selbstdarstellungen zu lesen, mit denen die päpstlichen Diplomaten ihr Verhalten mit den Erwartungen der Adressaten in Einklang brachten?
Es stellt sich die Frage, inwiefern den Diplomaten jeweils mehrere Wahrnehmungsmodi zur Verfügung standen, entsprechend der Normkonkurrenz, welche jede mikrohistorische Betrachtung frühneuzeitlicher Diplomatie zu Tage fördert. Dass Rollenvielfalt und Normkonkurrenz für frühneuzeitliche Diplomatie geradezu konstitutiv waren, haben etwa die Studien von Wolfgang Reinhard und seiner Schüler zur römischen Mikropolitik gezeigt. Im vorliegenden Band werden sie beispielsweise im Beitrag von Bettina Scherbaum über die bayerischen Gesandten in Rom greifbar, die im 17. und 18. Jahrhundert aus römischen Familien rekrutiert wurden. Zu fragen wäre auch nach der Entwicklung spezifisch diplomatischer Wahrnehmungsmodi zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert, die mit der langsamen Verfestigung der Diplomatie als eines durch die Normen einer Profession geregelten Handlungsbereiches korrespondiert hätten. Ohne derartige Präzisierungen der Fragestellung ergibt sich ein wenig überraschendes Inventar von Stereotypen. Dies wird deutlich, wenn etwa Christopher F. Laferl in seinem Aufsatz über spanische Hofleute und Diplomaten im Umfeld Karls V. und Ferdinands I. eine zunehmende Abgrenzung unter konfessionellem Vorzeichen feststellt. Weitaus interessanter wäre die Frage gewesen, wie sich Hofleute und Diplomaten aufgrund ihrer Wahrnehmungsmodi in der Interaktionspraxis den "Ketzern" gegenüber verhielten.
Beobachtungen zur Differenzerfahrung und den kulturellen Praktiken von Diplomaten anhand nur einer bestimmten Form des Briefwechsels, gewöhnlich der regulären diplomatischen Korrespondenz, müssen in der Regel zu kurz greifen. Wenn etwa ein Nuntius in Köln zuhanden seiner römischen Adressaten die Lage im Reich aufgrund kirchenrechtlicher Maßstäbe als chaotisch beschrieb (dazu der Beitrag von Stefan Samerski), so ist dieser Befund zunächst auf eine Form des Schreibens zu beziehen, die in einem konkreten Kontext Sinn vermitteln sollte. Er gibt weniger über die Art und Weise Aufschluss, wie der Schreibende seine Umgebung tatsächlich wahrnahm und seine Aufgaben anging. Allgemein ist die Analyse der Wahrnehmungsmodi nicht von der Untersuchung des jeweiligen Mikrokontextes zu trennen, in welchem vor Ort kommuniziert und über diese Kommunikation berichtet wurde. Aufschlüsse versprechen diesbezüglich zuweilen die Parallelüberlieferungen der Vertreter konkurrierender Mächte sowie der Vergleich von erhaltenen parallelen Briefwechseln des gleichen Diplomaten mit verschiedenen Adressaten, welche Praktiken kontextabhängiger Selbstdarstellung verdeutlichen.
Schärfer herausgearbeitet wird in diesem Sinne der Bezug zwischen Interaktion und Wahrnehmung beispielsweise im Beitrag von Christina Lutter über die "Differenz- und Kongruenzerfahrungen" der Gesandten Venedigs und des Kaisers um 1500 oder im Aufsatz von Thomas Lau über den französischen Ambassadorenhof im eidgenössischen Solothurn. Lutter unterstreicht, "wie spezifische [...] Diskurse über lange Zeiträume hinweg interagierten und wie einzelnen Wissensbeständen immer wieder aktuelle Bedeutungen gegeben werden konnten" (142).
Etwas eng gezogen - Deutschland, Österreich und die Schweiz - sind im übrigen die Grenzen der Internationalität, welche die dem Band zugrunde liegende Tagung in Bonn beanspruchte. Mögen solche Einschränkungen bei der Auswahl der Referenten ihre praktische Rechtfertigung haben, so wirkt die überwiegende Ausrichtung der einzelnen Beiträge auf die deutschsprachige Forschung überraschender. Von Ausnahmen abgesehen (etwa dem Beitrag von Wolfgang Reinhard) kommt auch die Berücksichtigung anthropologischer Fragestellungen zu kurz. Die meisten Autorinnen und Autoren gehen recht unbelastet von historischer Anthropologie an ihre Forschungsobjekte heran und verwenden dementsprechend Begriffe wie "Kultur" und "Interkulturalität" in theoretisch wenig reflektierter Art und Weise. Auch die in der literaturwissenschaftlichen Erforschung von Reiseberichten verbreiteten diskursanalytischen Ansätze werden nur vereinzelt angesprochen.
Dennoch vermittelt der Band eine Vielzahl interessanter Informationen: Neben den bereits erwähnten Thematiken werden etwa die Situation in Augsburg während des Reichstags von 1582 (Josef Leeb), der Sprachgebrauch auf dem Westfälischen Friedenskongress (Guido Braun), die Lebens- und Erfahrungswelten sowie die Verhandlungsdispositionen des spanischen Gesandten Peñaranda in Münster (Michael Rohrschneider), die Fremdstereotypen der französischen Gesandtschaften auf dem Friedenskongress in Westfalen (Anuschka Tischer) und im Heiligen Römischen Reich (Friedrich Beiderbeck), die kaiserlichen Diplomaten im Osmanischen Reich (Ernst Dieter Petritsch) und eine osmanische Gesandtschaft im Safawidenreich (Suraiya Faroqhi) behandelt.
Christian Windler