Jens Niederhut: Wissenschaftsaustausch im Kalten Krieg. Die ostdeutschen Naturwissenschaftler und der Westen (= Kölner Historische Abhandlungen; Bd. 45), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, X + 374 S., ISBN 978-3-412-23706-6, EUR 47,90
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Untersuchungen über Wissenschaft und Forschung sowie ihre Einbindungen in die Gesellschaftspolitik haben in der bisherigen seit Anfang der 1990er Jahre expandierenden politisch und sozialwissenschaftlich orientierten DDR-Forschung bedeutend an Umfang und Tiefe gewonnen. Jens Niederhut folgt der Suche nach Konflikten zwischen politischen Steuerungsansprüchen und wissenschaftlichem Autonomiestreben, indem er die Versuche der SED-Führung analysiert, den Wissenschaftsaustausch und die Außenkontakte ostdeutscher Wissenschaftler mit Westdeutschland und dem westlichen Ausland zu kontrollieren und zu steuern.
Der Autor präsentiert mit diesem Buch die Ergebnisse seiner Kölner Dissertation von 2006. Er kann auf überzeugende Weise für die verschiedenen Phasen der DDR-Geschichte am Beispiel ostdeutscher Naturwissenschaftler nachweisen, in welchem Ausmaß und mit welchen Wirkungen die Wissenschaft der DDR vom politisch motivierten Wechselspiel zwischen internationaler Öffnung und Abschottung geprägt war. Alle internationalen wissenschaftlichen Kontakte und Kooperationen mussten den Filter amtlicher Instanzen und politischer Kontrolle passieren. Das betraf in besonderer Weise die deutsch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen, die im Zentrum dieser Studie stehen. Durch die Analyse von Handlungsspielräumen ostdeutscher Naturwissenschaftler im Wissenschaftsaustausch mit der Bundesrepublik rücken zugleich die deutsch-deutschen Verflechtungen in den Blick, wodurch die sonst übliche Binnensicht auf die DDR-Geschichte verlassen wird. Die Einordnung der DDR-Wissenschaftsgeschichte in den Kontext der deutsch-deutschen wie auch der internationalen Verflechtungen stellt eine der Stärken dieses Buches dar.
Niederhut geht dem Verhältnis von Isolation und Öffnung in den vier Jahrzehnten der Existenz der DDR nach, wobei der Zeitraum vom Ende der 1950er Jahre bis zur Mitte der 1970er einen Schwerpunkt bildet. Die politische Kontrolle über den Wissenschaftsaustausch, also die Entscheidung über Genehmigung und Verbot von Reisen in das westliche Ausland, wird zu Recht als ein Aspekt der Herrschaftspraxis der SED gesehen. Jens Niederhut fragt aber auch nach dem wissenschaftlichen Selbstverständnis und erschließt damit zugleich die Perspektive der Akteure. Die tradierten Vorstellungen von einem autonomen Wissenschaftsaustausch und das Selbstverständnis der Wissenschaftler standen dem totalen Gestaltungsanspruch der SED diametral entgegen. Insofern waren Konflikte zwischen der politischen Administration und den Wissenschaftlern zu erwarten, die in dem Buch am Beispiel naturwissenschaftlicher Fachgesellschaften erörtert werden. Da sich in diesen Gesellschaften auf besondere Weise die deutsch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen manifestierten, mussten die staatlichen Eingriffe gerade hier zu Konflikten und Auseinandersetzungen mit den handelnden Akteuren führen. Jens Niederhut demonstriert dies eindrucksvoll am Beispiel der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und ihres Präsidenten Kurt Mothes.
Für die verschiedenen Phasen der DDR-Geschichte werden Unterschiede in der Intensität staatlicher Lenkung und Kontrolle der Wissenschaftsbeziehungen mit dem Westen herausgearbeitet. Für die Jahre bis zum Mauerbau wird angesichts der offenen Grenze eine relativ großzügige Bewilligung von Reisegenehmigungen diagnostiziert. Im Alltagsgeschäft der noch existierenden gesamtdeutschen Wissenschaftsgesellschaften sowie der engen Kooperation akademischer Institutionen blühten die informellen Beziehungen zwischen den Naturwissenschaftlern aus Ost und West. Zugleich zeichnete sich bereits in den 1950er Jahren eine starke Politisierung der Wissenschaftskontakte durch staatliche Instanzen ab, da gesamtdeutsche Wissenschaftsveranstaltungen in den Dienst politischer Außendarstellung und der internationalen Anerkennung der DDR gestellt wurden.
Es kann kaum überraschen, dass Niederhut in den ersten Jahren nach dem Mauerbau den vorläufigen Höhepunkt einer staatlich verordneten Abschottungspolitik sieht: Der Wissenschaftsaustausch mit dem Westen kam nahezu vollständig zum Erliegen. Erstaunlicherweise beschreibt er für die Mitte der sechziger Jahre eine "kurze Renaissance gesamtdeutscher Wissenschaft" (80), die mit der Weimarer Naturforschertagung im Oktober 1964 ihren sichtbaren Ausdruck fand. Zu Recht verweist Niederhut auf den gesellschaftspolitischen Hintergrund dieses Phänomens: Wissenschaft avancierte in der späten Ulbricht-Ära zum gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsziel und wurde in die von der SED-Führung definierten weltanschaulichen Werte eingeordnet. Vor diesem Hintergrund stießen die Forderungen der Naturwissenschaftler nach Reisen und internationalem Austausch auf Unterstützung an der Spitze von Partei und Staat.
Der Beginn der Honecker-Ära markiert für Niederhut das Ende der gesamtdeutschen Wissenschaftlergemeinschaft und eine scharfe Zäsur in den Wissenschaftsbeziehungen zu den westlichen Staaten. Er zeigt dies am Beispiel zweier interdisziplinärer Wissenschaftsgesellschaften: der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Beide Gesellschaften galten nicht zuletzt dank des Engagements ihrer führenden Repräsentanten bis zum Ende der 1960er Jahre noch als Symbole einer gesamtdeutschen Wissenschaftlergemeinschaft. Während die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in der DDR 1970 aufgelöst wurde, wirkte die Leopoldina seither nicht mehr als gesamtdeutsche, sondern internationale Einrichtung. Zugleich verschob sich der Bezugsrahmen ostdeutscher Wissenschaft von der Bundesrepublik auf die westlichen Industrieländer, insbesondere auf die USA.
Der Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren führte zu tiefen Einschnitten in der Gestaltung wissenschaftlicher Außenbeziehungen. Mit dem Reisekadersystem schuf die SED-Führung neue Grundlagen für den wissenschaftlichen Austausch mit dem Westen. Nur noch "politisch zuverlässige" Wissenschaftler durften nach einer ausgefeilten Prozedur politischer Überprüfung in die Bundesrepublik und in das westliche Ausland fahren. Mit den Anfang der 1970er Jahren eingeführten Mechanismen und politischen Instrumenten, so resümiert Niederhut, konnte die SED-Führung die angestrebte staatliche Kontrolle über Inhalte und Ausgestaltung der wissenschaftlichen Außenbeziehungen durchsetzen. Sein Fazit darüber lautet: "Das Reisekadersystem war - wiewohl schon unter Ulbricht initiiert - ein typisches Produkt der Ära Honecker: bürokratisch, intransparent, zentralistisch, auf subtile Repression gründend, geschaffen zur Disziplinierung und Kontrolle, ein Instrument zur Planung und Steuerung der Gesellschaft, wobei leistungsorientierte und bereichspezifische Rationalitätskriterien außer Kraft gesetzt wurden." (237)
Anhand des institutionalisierten Wissenschaftleraustausches mit den USA kann der Autor aufzeigen, wie seit den 1970er Jahren versucht wurde, ein Höchstmaß an staatlicher Kontrolle mit einem möglichst effizienten Technologietransfer zu verbinden. Im Kontext der unter SED-Generalsekretär Honecker praktizierten Wissenschaftspolitik wurde verstärkt auf die internationale Kooperationsfähigkeit gesetzt. Die Studie zeigt, wie sich im Schatten politischer Kontrollmechanismen auch neue Reisemöglichkeiten und erweiterte Wissenschaftskontakte für "Reisekader" eröffneten. Doch stellte das politische Monopol, über internationale Kooperation und wissenschaftlichen Austausch zu entscheiden, das größte Hemmnis sowohl für die beabsichtigte Kooperationsfähigkeit der DDR-Wissenschaft als auch für das erstrebte Weltniveau der wissenschaftlichen Forschung dar.
Nicht ganz überzeugend ist die Schlussfolgerung von Jens Niederhut, der "wissenschaftliche Internationalismus" im Wissenschaftsbereich habe zur schleichenden Erosion der Herrschaftslegitimation der SED beigetragen. (320) Das Verdienst seiner Studie besteht vor allem darin, anhand des staatlich kontrollierten Wissenschaftsaustausches aufgezeigt zu haben, in welchem Ausmaß die DDR und die Bundesrepublik unterhalb der politischen Ebene miteinander verflochten waren. Insofern bilden die präsentierten Untersuchungsergebnisse einen wichtigen Baustein nicht nur für eine DDR-Wissenschaftsgeschichte, sondern auch für eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte.
Andreas Malycha