Armin Wagner / Matthias Uhl: BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Militärspionage in der DDR (= Militärgeschichte der DDR; Bd. 14), Berlin: Ch. Links Verlag 2007, 295 S., ISBN 978-3-86153-461-7, EUR 24,90
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Anlässlich einer Berliner Konferenz im Frühjahr 2004 über demokratische Kontrolle der Geheimdienste gab der damalige Vize-Präsident des Bundesnachrichtendienstes General Werner Schowe bekannt, dass der BND "die Auslandsberichterstattung zur DDR komplett dem Bundesarchiv übergibt, so dass wissenschaftliche Forschung die Erkenntnislage des Dienstes mit anderen Quellen abgleichen kann." [1] Bei diesem Satz, den vermutlich ein Referent geschrieben hatte, schien der Vortragende - man konnte es seinem Gesichtsausdruck entnehmen - selbst nicht ganz sicher, ob seine Aussage denn stimmen könne. Auch bei den Zuhörern kamen Zweifel auf, denn der BND hatte bis dahin kein einziges Blatt seiner internen Akten deklassifiziert. Durch eine Sonderregelung ist er von der Pflicht zur Ablieferung seiner Akten an ein externes Archiv entbunden. Doch nun hat er tatsächlich Aktenmaterial in erheblichem Umfang für die Forschung freigegeben, das von Armin Wagner und Matthias Uhl in ihrem hervorragenden Forschungsüberblick eingehend beschrieben wird. Was es über die Forschungslage und über den Nutzen der älteren Publikationen zum BND zu sagen gibt, steht ebenfalls dort zu lesen. Einige Aktenstücke findet man im Anhang abgedruckt.
Im zweiten Teil ihres Buches wird sodann vorgeführt, was sich mit diesem Quellenmaterial des BND anfangen lässt. Die Autoren konzentrieren sich auf die Beobachtung der auf dem Gebiet der SBZ/DDR stationierten Verbände der sowjetischen Streitkräfte, die zweifellos eines der hauptsächlichen Arbeitsgebiete des BND bildeten. Dazu sind jetzt ca. 10.000 Karteikarten zu praktisch jeder Einheit und jeder von den Sowjets benutzten Liegenschaft verfügbar, auf denen in Stichworten die von Agenten beobachteten Ereignisse oder Feststellungen verzeichnet sind - mit Datum und Registriernummer des Agenten. Insgesamt sind es 482 verzeichnete Standorte. Anfang der 1970er Jahre wurden jedoch die Eintragungen dürftig, vermutlich weil man eine elektronische Datei aufbaute.
Was sagt uns das? Zunächst einmal lässt sich daraus rekonstruieren, wie die Beschaffung solcher Agentenmeldungen organisiert war und was in Erfahrung gebracht wurde. Eine Verknüpfung aller Meldungen eines bestimmten Agenten lässt sogar auf sein Profil schließen, wenngleich die Identität wohl für immer verborgen bleiben wird. Mitte der 1950er Jahre könnte der BND ca. 4.000 solche Agenten in ganz Osteuropa, die meisten in der DDR, gehabt haben. Viele davon dürften ehemalige Wehrmachtsoldaten gewesen sein, die gute Kenntnisse über militärische Organisation, Waffen und Geräte hatten. Aber es gab auch zahlreiche sehr junge Leute.
In der Zusammenschau wurde daraus gewonnen, was man als "order of battle intelligence" bezeichnet, also ein Gesamtbild der militärischen Fähigkeiten. In der DDR waren nach dem Abbau und Rückzug der Masse der kriegführenden Truppen zwischen 300.000 und 600.000 Sowjetsoldaten plus deren Angehörige stationiert. Da diese Truppen stark abgeschirmt waren, musste das Lagebild wie ein Mosaik aus unzähligen Einzelmeldungen über Truppenbewegungen, neue Fahrzeuge und Waffen, Verhaltensweisen der Soldaten und anderen Indikatoren zusammengesetzt werden. Diese Daten gingen in die Berichte des BND an die Bonner Ministerien ein, von denen nun ebenfalls eine erhebliche Anzahl im Bundesarchiv einsehbar ist. Der Bonner Regierung stand somit ein Sensorium für die Moskauer Sicherheitspolitik in der DDR und damit in der Deutschlandfrage zur Verfügung, das in zahlreichen Krisen Auskunft über die vermeintlichen Absichten und Vorgehensweisen des Kreml gab. Der BND stellte somit ein Frühwarnsystem für die militärisch-politische Konfrontation in Mitteleuropa bereit.
Wie zutreffend waren diese Einschätzungen? Eine letztgültige Antwort könnte man nur geben, wenn man die sowjetischen Militärakten hätte, was aber nicht der Fall ist. Allerdings kommt aus berufenem Munde ein erstaunliches Lob über die diesbezügliche Leistung des BND, nämlich von der DDR-Staatssicherheit. In einem Stasi-Dokument von 1988 heißt es, "dass der BND seit seinem Bestehen Militärspionage betreibt und über ein detailliertes, im wesentlichen zutreffendes und aktuelles Wissen zum auf dem Territorium der DDR dislozierten militärischen Potential verfügt." (262) Derartige Äußerungen finden sich vor allem in den Akten der DDR-Spionageabwehr, die offensichtlich immer wieder überrascht wurde. Gewiss muss man zugeben, dass die vielen festgenommenen BND-Agenten als Erfolg der DDR-Seite zu rechnen sind. Dass jedoch trotz der ungeheuer intensiven Überwachung, die in der DDR spätestens seit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 herrschte, überhaupt noch so viele Agenten tätig waren - von denen erfahrungsgemäß nur ein Teil "geschnappt" werden konnte - stellte zugleich eine eklatante Niederlage der DDR-Tschekisten dar, die sich noch heute so heftig ihrer handwerklichen Perfektion rühmen.
Mit dem Bau der Berliner Mauer wurde die ostdeutsche Spionageabwehr erheblich leichter, denn nun konnten die BND-Beobachter nicht mehr in den Westteil der Stadt kommen, um ihre Meldungen zu übergeben. Postsendungen, die mit Geheimtinte verfasst wurden, sowie geheime Funkmeldungen, waren sehr viel riskanter. Der BND musste seine Beschaffung aus der DDR weitgehend auf auswärtige Reisende (Geschäftsleute, Lastwagenfahrer, usw.) umstellen. Allerdings wäre das Reservoir an ehemaligen Wehrmachtssoldaten und an traditionellen Antikommunisten ohnehin mit den Jahren geschrumpft. Im Übrigen nahm der Reiseverkehr ein Jahrzehnt später wegen der Ostverträge wieder zu, wodurch das Potential an durchreisenden Beobachtern ernorm anwuchs. Doch das Geschäft blieb gefährlich. Schätzungsweise 5.000 Zuträger des Westens wurden im Osten festgenommen, davon sollen 80 Prozent für die Bundesrepublik tätig gewesen sein (187).
Wie weit es gelang, die menschlichen Quellen durch technische zu ersetzen (Erfassung und Entschlüsselung des sowjetischen Militärfunks, usw.), lässt sich nicht abschätzen. Hier spielten vor allem die drei westlichen Besatzungsmächte in Berlin eine Rolle, die auf dem Teufelsberg über gewaltige Abhöranlagen verfügten. Unklar ist auch, wie und mit welchem Ergebnis die BND-Daten mit Erkenntnissen der westalliierten Militärmissionen in Potsdam sowie mit anderen Quellen der westalliierten Nachrichtendienste zusammengeführt wurden. Der BND dürfte ein wichtiger Lieferant für die NATO-Planungen gewesen sein, aber mehr wissen wir heute noch nicht.
Durch die Abgleichung des neuen BND-Materials mit Aktenbeständen der Stasi sowie mit russischen Publikationen und Dokumenten ist es den Autoren möglich, über die Auswertung des Archivmaterials hinaus zur Bewertung und Einordnung in die größeren Zusammenhänge vorzudringen. Im Unterschied zu fast allen Autoren, die bisher über den BND geschrieben haben, belegen sie jede einzelne Aussage entweder mit Archivquellen oder doch zumindest mit einer expliziten Begründung für ihre Vermutungen. Dabei benutzen sie durchaus auch DDR-Publikationen über den BND. Das ist der entscheidende Unterschied zu den meisten der publizistischen Bücher über den BND, deren Autoren frisch und fröhlich alles Mögliche behaupten, ohne sich der Mühe eines Nachweises oder wenigstens einer expliziten Plausibilitätsprüfung zu unterziehen. Mit Wagner und Uhl beginnt die neue Geschichte des BND, die die meisten der älteren Bücher à la "Schnüffler ohne Nase" oder "die Machenschaften des BND" schlichtweg überflüssig macht.
Keineswegs wird damit der BND auf den Sockel gehoben, zumal wir über seine inneren Arbeitsabläufe und seine sonstigen Leistungen (außer der Beobachtung der Roten Armee im Lande Ulbrichts und Honeckers) bislang kaum etwas wissen. Was wir vor allem aus amerikanischen Akten über seine Personalpolitik der frühen Jahre erfahren, ist nicht erbaulich. Aber niemand kann erwarten, dass ein Auslandsgeheimdienst des Kalten Krieges fehlerlos arbeitete oder von ethisch zweifelhaften Operationen frei war. Die CIA hat sich längst damit abgefunden und gibt ihre Akten beinahe ohne Rücksicht auf eigene Empfindlichkeiten frei ("warts and all"). So weit ist der BND, von 1949 bis 1956 das Ziehkind der CIA, noch längst nicht.
Die noch jungen Zeithistoriker Armin Wagner und Matthias Uhl haben vorgemacht, wie man westdeutsche Geheimdienstgeschichte zu schreiben hat. Daran wird man die angekündigte "offizielle" Geschichte des BND messen, falls sie je zustande kommen sollte.
Anmerkung:
[1] Wolbert K. Smidt u.a. (Hgg): Geheimhaltung und Transparenz: demokratische Kontrolle der Geheimdienste im internationalen Vergleich. Münster 2007, 65.
Wolfgang Krieger