Rezension über:

Jeremy A. Greene: Prescribing by Numbers. Drugs and the Definition of Disease, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2007, xv + 318 S., ISBN 978-0-8018-8477-1, USD 49,95
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Rezension von:
Christoph Gradmann
Institute of General Practice and Community Medicine, Section for Medical Anthropology and Medical History, University of Oslo
Redaktionelle Betreuung:
Florian Steger
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Gradmann: Rezension von: Jeremy A. Greene: Prescribing by Numbers. Drugs and the Definition of Disease, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 5 [15.05.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/05/13055.html


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Jeremy A. Greene: Prescribing by Numbers

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Es gehört zu den Charakteristika der medizinischen Versorgung in den Industriestaaten am Beginn des 21. Jahrhunderts, dass ihre Bewohner gesünder sind als ihre Vorfahren es je waren und gleichzeitig weitaus mehr Medikamente konsumieren als je zuvor. Seine Erklärung findet dieser scheinbar paradoxe Zustand in der Karriere einer präventiven Medizin, die sich nicht auf Vorbeugung oder gar Therapie manifester Krankheiten, sondern auf die Behandlung ihrer angenommenen Vorstufen konzentriert. Die Überwachung und medikamentöse Regulierung von Bluthochdruck, Cholesterinspiegel oder Blutzucker erscheint unter der Perspektive gerechtfertigt, dass sich so das Auftreten von Herzinfarkt, Diabetes und anderen manifesten Krankheiten verhindern lässt. Jeremy A. Greenes Buch "Prescribing by Numbers" schreibt am US-Amerikanischen Beispiel die Geschichte dreier Medikamente und der mit ihnen verbundenen so genannten Risikofaktoren: des Hochdruckhemmers Diuril, des Blutzuckerregulators Orinase und schließlich eines Mittels zur Kontrolle des Cholesterinspiegels namens Mevacor.

Die Geschichte der Forschung, Entwicklung und des Marketings aller drei Medikamente hat Greene in Literatur und Archiven gründlich recherchiert. Nimmt man die einzeln geschilderten Fälle zusammen, so zeigt sich, dass die Therapie von Risikofaktoren, die man als symptomlose Vorstufen von Krankheiten verstand, für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit weit reichende Folgen hatte. Produktentwicklung, Marketing und Krankheitsdefinition verschmolzen zunehmend miteinander und im Resultat wurden therapierbare Parameter wie erhöhter Blutdruck oder Blutzucker selbst als Krankheiten aufgefasst. Der Begriff des Gesunden erschien nun zunehmend als statistischer Normwert, von dem sich nach Maßgabe der pharmazeutischen Innovationen immer mehr Abweichungen als therapiewürdige, wenn auch in der Regel asymptomatische Krankheiten abspalten ließen. War nach traditionellem Verständnis die Krankheitsdefinition dem passenden Medikament vorgängig, so erscheint es als typisch für die Medizin der letzten 50 Jahre, dass sich Krankheitsdefinitionen aus Manipulationsmöglichkeiten entwickeln. So differenzierte sich beispielsweise der Bluthochdruck im Maße seiner Therapierbarkeit in eine nicht geringe Zahl von verschiedenen Formen, die in der Regel aber nicht manifest pathologisch waren, sondern über Risikofaktoren und deren angenommenen Folgeschäden verstanden werden.

Es sind also die Manipulationsmöglichkeiten messbarer pathophysiologischer Parameter sowie das statistisch begründete Wissen um ihren Status als Vorstufen manifester Erkrankungen, das die Karriere von Medikamenten wie Cholesterinhemmern und ähnlichem begründet. In diesem Sinne ist es, daran lässt Greene keinen Zweifel, begrüßenswert, dass es in der Regel nicht mehr oder doch sehr viel später zur Ausbildung manifester Krankheitsbilder kommt. Der Preis dafür aber ist einerseits der einer gewissen Entindividualisierung von Diagnose und Therapie: Statistisch beschreibbare Abweichungen von Normwerten treten an die Stelle des nicht selten gänzlich fehlenden subjektiven Krankheitsempfindens, Diagnose und Therapie werden standardisiert. Andererseits hat sich das Verhältnis von Marketing, Medikamentenentwicklung und Krankheitsdefinition in einer Weise verändert, die epochenspezifisch erscheint. Hatte man vordem eher nach Wirkstoffen gegen bekannte somatische Störungen gesucht, so fokussierte sich die Therapie jetzt auf die Beeinflussung ihrer angenommenen Vorstufen. Nun waren es Marketing und Forschung, die ihrerseits eine Vielzahl von zumeist asymptomatischen Krankheitszuständen definierten und im Resultat wurde so die Definition von Krankheiten selbst den Kräften des Marktes überlassen.

Jeremy Greene schildert detailreich und sprachlich durchaus gewandt die Vielzahl der mit seiner Geschichte verbundenen Akteure des pharmazeutischen Marktes: Forscher, Marketingexperten, Klinker, Patienten, Zulassungsbehörden andere mehr sind alle an der Definition von Krankheitsbildern und Interventionsmöglichkeiten beteiligt. Eine Zentralstellung in der Kommunikation dieser Akteure haben die so genannten randomisierten klinischen Versuchsreihen. Sie erscheinen in ihrer stets umstrittenen Methodik als Schnittsstelle, als der Ort an dem die Beteiligten ihre Interessen einbringen und untereinander aushandeln. Gleichzeitig sind Forschung und Marketing in der Medikamentenerprobung kaum noch zu trennen: Eine klinische Studie dient ebenso gut der Ermittlung der Wirksamkeit eines Medikaments wie der Werbung für dasselbe. Der Erfolg der so genannten Evidenzbasierten Medizin mit ihrer Rhetorik der statistischen Validierung belegt in diesem Sinne vor allem die enorme Dynamik der marktwirtschaftlichen Kräfte in Medizin, Pharmazie und öffentlichem Gesundheitswesen.

Mit der Fülle des verarbeiteten Materials und seiner ausführlichen Diskussion der Forschung ist "Prescribing Disease" in erster Linie ein Buch für Fachleute aus Medizingeschichte, Pharmaziegeschichte, Public Health sowie den Science and Technology Studies. Allerdings formuliert der Autor zum Abschluss seiner Untersuchung eine These, die über den Rahmen fachspezifischer Diskurse hinausweist: Gesundheit bleibt letztlich ein kostbares, aber nicht käufliches Gut. Leider aber steigt ihr Preis beständig und dies bedroht letztlich die Gesundheit der Vielen. Wer die Definition von Gesundheit und Krankheit sowie die Entwicklung des therapeutischen Arsenals alleine den Kräften des Marktes überlässt, setzt die Gesundheit derer aufs Spiel, die zu den schwächeren Akteuren auf diesem Felde gehören. Das gilt für Menschen ohne Krankenversicherung aber auch für das öffentliche Gesundheitswesen als Ganzes, dessen Autorität tendenziell untergraben wird. In großen Zusammenhängen betrachtet, ist es nicht überraschend, dass die Karriere jener "pharmacopeia of risk" im welthistorischen Maßstab manifeste Krankheiten an den Rand des Interesses gedrängt hat. Mit der Therapie akuter Infektionen beispielsweise ist im Vergleich zu langjähriger Prävention kaum Geld zu verdienen, zumal wenn die Betroffenen über wenig Einkommen verfügen, wie im Falle von Malaria oder Schlafkrankheit.

Insgesamt leistet Jeremy Greenes Buch einen fundamentalen Beitrag zur Geschichte der Arzneimittel im späten 20. Jahrhundert. Wer immer auf diesem Felde arbeitet, dürfte für lange Zeit kaum daran vorbei kommen.

Christoph Gradmann