Bernd Kirschbaum: Gerhard Kleinsorgen (1530 - 1591) ein Geschichtsschreiber im Westfalen der Frühen Neuzeit. Das Werk und sein Autor, Norderstedt: Books on Demand 2005, 390 S., ISBN 978-3-8334-2423-6, EUR 39,80
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Der westfälische Geschichtsschreiber Gerhard Kleinsorgen (1530-1591) gehört zu den weniger bekannten Historiografen. Zedlers Universallexikon kennt ihn nicht, die ADB (Bd. 16, 112) handelt den kurkölnischen Rat nur kurz ab. Ursache ist sicherlich die allein handschriftliche Überlieferung seiner Werke, die erst nahezu 200 Jahre nach seinem Tod eine erste Drucklegung fanden.
Bernd Kirschbaums Dissertation hat es sich zur Aufgabe gemacht, die komplizierte Handschriftenüberlieferung und die Frage der Verfasserschaft der unter dem Namen Kleinsorgens überlieferten Texte zu klären. Es handelt sich um eine westfälische Kirchengeschichte mit dem Titel "Ecclesiastica Historia Westfaliae" (im Folgenden kurz: EHW), die 1779 gedruckt wurde, um das Kleinsorgen zugeschriebene "Diarium historiae Truchsessianae" (im Folgenden kurz: DHT), das nur in einer Abschrift überliefert ist, 1780 und 1987 erneut durch Alfred Bruns gedruckt wurde, und um einige kleinere chronikalische und genealogische Schriften.
Einer Biografie Kleinsorgens und einer Beschreibung der historischen Situation im Kurfürstentum Köln, die auf einer der zu untersuchenden Quellengrundlagen selbst (dem von Bruns herausgegebenen Tagebuch der Truchsessischen Wirren) und auf Max Lossens "Der Kölnische Krieg" (2 Bde. Gotha 1882; München 1897) beruht, folgt die Verzeichnung der Schriften Kleinsorgens. Minutiös rekonstruiert der Verfasser die Werke aus handschriftlichen und gedruckten zeitgenössischen Bibliografien und Berichten (u.a. Josef Hartzheim: Bibliotheca Coloniensis. Köln 1746), um dann eine hilfreiche Übersicht über die verschiedenen Handschriften in Tabellenform zu geben.
Die Abfassungszeit der EHW rekonstruiert Kirschbaum über die von ihr zuletzt aufgenommenen historischen Daten. Er diskutiert dann das Problem, dass einige Handschriften der EHW nur neun Bücher überliefern, während andere ebenso wie die Münsteraner Edition des Mauriners Erasmus Köster (erschienen 1779/1780) zehn enthalten. Für die Analyse nimmt der Verfasser einen synoptischen Vergleich von Passagen des 10. Buches der EHW mit dem Truchsessischen Tagebuch in der Druckausgabe von Bruns vor, so dass auf diese Weise wörtliche Übernahmen, Verengungen des Blickwinkels, Änderungen der Berichtsperspektive und der historiografischen Methode kenntlich gemacht werden können.
Dabei arbeitet der Verfasser heraus, dass sowohl das 10. Buch der EHW als auch das DHT nicht auf Kleinsorgen, sondern auf den Werler Pfarrer Johannes Ungsbeck (gestorben 1666) zurückgehen. Er redigierte das DHT, das aus Ausschreiben des Kurfürsten Gebhard Truchsess von Waldburg entstanden war, im Auftrag des Paderborner Fürstbischofs Ferdinand von Fürstenberg und präparierte Kernsätze heraus, die er mit Passagen aus Michael von Isselts "De bello Coloniensi" (erschienen 1584) zum zehnten Buch der unvollendet gebliebenen westfälischen Kirchengeschichte (EHW) kompilierte, das in der Rezeption schließlich Kleinsorgens Gesamtwerk zugeschrieben wurde. Während die EHW ihre Berichte in die Reichsgeschichte einbettet, ergibt das DHT nur im Zusammenhang mit Isselts Werk einen übergeordneten Sinn. Schließlich streitet Kirschbaum auch die Kleinsorgen zugeschriebene Autorschaft an einer Genealogie der Grafen von Lippe und kleineren Chroniken ab, die allenfalls abschriftliche Überlieferungen von dessen Materialsammlungen darstellen.
In der Zusammenfassung gibt der Verfasser eine knappe Deutung der Geschichtsschreibung Kleinsorgens. Die eher ungewöhnliche Zahl von neun Büchern lässt vermuten, dass es sich bei der überlieferten EHW nur um einen Torso handelt. Die Auswertung endet mit dem Wunsch, dass die Bibliothek Kleinsorgens virtuell erschlossen werden möge. Angehängt sind Transkriptionen der Titelblätter der Handschriften, Kurzbiografien, Titelkonkordanzen, Auflistungen von "Beylagen", Abbildungen von Einbänden u.a.
Die verzweigte Handschriftenüberlieferung der Werke Kleinsorgens bzw. der ihm zugeschriebenen Schriften hat in Kirschbaum einen akribischen Bearbeiter gefunden, der sich großen Mühen unterzog, um ihre Stemmata zu entwickeln und den Weg der Abschriften zu erklären. Der Verfasser rekonstruiert die Genese der verschiedenen Texte und Abschriften, so dass er nicht nur die dem Autor Kleinsorgen zugeschriebenen Werke sortiert, sondern eine Überlieferungsgeschichte frühneuzeitlicher Handschriften eruiert.
Leider stößt die kritische Würdigung der Geschichtsschreibung Kleinsorgens schnell auf Grenzen, da sie selten auf Quellenbeweisen beruht und eine kultur- und historiografiegeschichtliche Einordnung der Schriften samt Analyse ihrer Funktion in den konfessionellen Auseinandersetzungen nur in Ansätzen erfolgt. Es ist richtig, dass Kleinsorgen innerprotestantische Widersprüche offenlegen wollte, indem er das Konkordienbuch mit Luther selbst widerlegte (111), doch wäre an dieser Stelle neben beispielhaften Quellenbelegen ein Vergleich mit maßgeblichen Schriften Antonio Possevinos oder mit protestantischen Geschichtsschreibern angebracht.
Eine genaue Untersuchung von Kleinsorgens Methode und Technik, unterschiedliche Quellengattungen wie Berichte, Briefe, Selbstzeugnisse, Urkunden und Grabinschriften in die Darstellung mit einzubeziehen, hätte der westfälischen Kirchengeschichte und ihrem Autor ebenso wie eine Einordnung in die zeitgenössische Geschichtsschreibung mehr Plastizität verschafft. Ohne Angabe von Nachweisen heißt es, Kleinsorgen habe quellenorientiert gearbeitet (130) und Fälschungen nur benutzt, wenn er von ihrem Fälschungscharakter nichts wusste (106). Die Formen zeitgenössischer Echtheitsprüfung sehen jedoch anders aus: Die Anwendung humanistisch-kritischer Methoden und die Übernahme von Fälschungen schlossen sich in einem Werk nicht aus, konnten sogar Strategie sein. Eine Ursache kann in Kirschbaums Humanismus-Begriff liegen, der eine "Abkehr von den mittelalterlichen Traditionen theologischer Deutungen des Weltgeschehens" (225) zum Minimalkonsens erhebt. Damit ginge aber vielen Gelehrten des 16. Jahrhunderts das humanistische Attribut verloren, denn die Einbettung der Menschheitsgeschichte in Heilsgeschichte blieb Konsens.
Obwohl der Verfasser seinem Autor ein wenig heroisch attestiert, "unbestechlich gegen die zu propagandistischen Zwecken im protestantischen Sinne benutzte Geschichtsschreibung" (133) aufzutreten, legt er doch selbst die rechtlich-administrativen und im katholischen Sinne konsolidierenden Intentionen Kleinsorgens offen (148), der nicht zufällig 1585 mit der Niederschrift begann, als die Universität in Paderborn gegründet wurde. Schließlich scheinen einige moralische Werturteile über Kurfürst Gebhard Truchsess von Waldburg, dessen charakterliche Defizite "folgerichtig" (34) zur Absetzung geführt hätten, dem Untersuchungsgegenstand, den von Kleinsorgen selbst produzierten Quellen, recht ungebrochen zu folgen. Dabei erkennt der Verfasser die soziale und konfessionspolitische Dimension, denn Kleinsorgen als Sprecher der westfälischen Räte wurde zum Gegner des Kurfürsten, weil dieser gegen althergebrachte ständische Rechte verstieß (222). Interessant wäre es gewesen nachzufragen, ob der Autor sein Werk zur Legitimierung des ständischen Widerstands gegen den Kurfürsten verfasst hatte und an der Erneuerung der katholischen Tradition, die Identifikationspotentiale lieferte, mitwirkte. In der Bestimmung des Autorenhorizonts könnte auch eine Ursache für die Abfassung der Chroniken in deutscher Sprache liegen, denn der Hinweis, mit der Verwendung der Muttersprache die "Reformatoren mit den eigenen Waffen zu schlagen" (130), ist allein nicht schlüssig, da deren Historien oft weiterhin auf Latein verfasst wurden.
Wiederholungen, Biografien randständiger Figuren und ein gelegentlich ausuferndes Inhaltsverzeichnis erschweren die Lektüre. Die mangelnde kulturgeschichtliche und sozialhistorische Kontextualisierung ist bedauerlich, doch hat der Verfasser die komplizierte Überlieferungslage der Handschriften Kleinsorgens weitgehend geklärt. Die Arbeit kann zur Korrektur des Bildes einer immer noch unterrepräsentierten katholischen Historiografie des 16. Jahrhunderts beitragen, der bislang allein Stefan Benz [1] eine umfassende Studie widmete.
Anmerkung:
[1] Stefan Benz: Zwischen Tradition und Kritik. Katholische Geschichtsschreibung im barocken Heiligen Römischen Reich (= Historische Studien, Bd. 473), Husum 2003.
Harald Bollbuck