Marc von der Höh: Erinnerungskultur und frühe Kommune. Formen und Funktionen des Umgangs mit der Vergangenheit im hochmittelalterlichen Pisa (1050-1150) (= Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Bd. 3), Berlin: Akademie Verlag 2006, 529 S., 57 Abb., ISBN 978-3-05-004181-0, EUR 69,80
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Mit der Entstehung der italienischen Kommune seit dem 11. Jahrhundert war die Ausbildung einer kommunalen Identität verbunden, zu deren Formung die kommunale Historiografie, aber auch Inschriften und nicht schriftliche Monumente im öffentlichen Stadtraum beigetragen haben. Am Beispiel Pisa führt Marc von der Höh in seiner interdisziplinär angelegten Untersuchung zwei Stränge zusammen, die in aktuellen historischen [1] und kunsthistorischen [2] Untersuchungen zu Genua noch getrennt behandelt worden waren. Unter dem Begriff der "Erinnerungskultur" versammelt er die Gesamtheit aller "verschiedenen Formen der Repräsentation von Vergangenem" (15), also nicht nur die Geschichtsschreibung in Form von Annalen und Chroniken, sondern auch Inschriften, Trophäen und Spolien. In der kommunalen Erinnerungskultur in Italien ist die reiche Pisaner Überlieferung schon aufgrund ihrer frühen Entstehung im 11. Jahrhundert eine Ausnahme. Die Rahmenbedingungen dafür lagen in den parallel verlaufenden Entwicklungen der militärischen und wirtschaftlichen Expansion Pisas im Mittelmeer einerseits sowie in der Ausbildung der Kommune andererseits. Geschichtserzählungen hielten "Angebote für eine kollektive Identität der Stadtbewohner" (33) bereit, die sich auch in einer Nutzung des städtischen Raums als Ort für dauerhafte Inszenierungen von Vergangenheitsdeutungen niederschlugen.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert, "die frühe kommunale Geschichtsschreibung" (41-201) und "Geschichte im Stadtraum - die Stadt als Erinnerungsraum" (202-426). Der erste Teil liefert eine systematische Untersuchung der Pisaner Historiografie unter der Frage, ob für die Pisaner Erinnerungskultur eine spezifische Auswahl erinnerungswürdiger Ereignisse festgestellt werden kann. Als Quellen werden herangezogen die Annalistik (Chronicon Pisanum, Annales Pisani Antiquissimi), aber auch die Geschichtsdichtungen (Carmen in victoriam Pisanorum, das den Sieg in Nordafrika 1087 feiert; Liber Maiorichinus, der in 3526 Versen die Eroberung von Ibiza und Mallorca 1113 bis 1115 verherrlicht; Gesta triumphalia per Pisanos facta, die Pisas Erhebung zum Erzbistum mit den Verdiensten um den Ersten Kreuzzug und der Bekämpfung der Sarazenen legitimieren) sowie die Sammlungen des Guido, die verschiedene Texte des spätantik-frühmittelalterlichen Bildungskanons umfassten. Dabei zeigt sich, dass die Auswahl dessen, was als erinnerungswürdig empfunden wurde, im Wesentlichen übereinstimmte: Pisa erschien als Stadt der Heidenbekämpfer, die Bedrohung durch die Sarazenen zu Beginn des 11. Jahrhunderts und die dadurch ausgelösten Flottenexpeditionen ins westliche Mittelmeer geradezu als "Gründungserlebnis der Pisaner Stadtgemeinschaft" (112). Neben der Erinnerung an die Siege war auch der Appell an die Eintracht (concordia) ebenso Gemeingut aller Texte wie das Verschweigen der innerstädtischen Konflikte, deren Existenz nur aus anderen Quellen bekannt ist - wie etwa dem von Erzbischof Daibert erzielten Friedensschluss im berühmten "Streit um die Türme". Von der Höhs Interpretationen der Geschichtsdichtungen (118-201) fördern auch die geschichtstheologische Ausdeutung der Erfolge Pisas im Kampf gegen die Sarazenen zutage: Die Arnostadt wurde als von Gott auserwählt dargestellt; als Besonderheit des Carmen zeigt sich eine typologische Gleichsetzung Pisas mit Israel und Rom, im Liber Maiorichinus geraten die mehrere hundert Verse langen, recht monotonen Beschreibungen des Kampfs namentlich erwähnter Pisaner gegen ihre sarazenischen Gegner zu einer Art kommunaler Memorial-Heldenepik.
Etwa seit der Mitte des 11. Jahrhunderts wurde auch der städtische Raum zu einem Ort der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die sich in Inschriften, Trophäen und Spolien konkretisierte. Die Frage nach ihrer Erinnerungsfunktion führt zur Frage nach den Trägern der Erinnerungspraxis. Unter Rückgriff auf Überlegungen von Armando Petrucci (215ff.) problematisiert von der Höh an den drei erhaltenen Komplexen der Pisaner "Erinnerungslandschaft" des 12. Jahrhunderts sowohl das Verhältnis zwischen Monument und der jeweils tragenden Architektur ("rapporto grafico-monumentale") als auch die Herrschaft über den jeweiligen grafischen Raum ("dominio dello spazio grafico"), die Rückschlüsse auf die Personenkreise zulässt, die hinter der jeweiligen Erinnerungsstiftung standen. Untersucht werden die Relikte der heute nicht mehr existenten, ursprünglich zum nördlichen Arno-Ufer führenden Porta Aurea, an der auf Anordnung der Kommune Inschriften angebracht worden waren. Eine davon gehörte zu einem Ehrenmonument, das unter Verwendung einer antiken Herkulesstatue zur Erinnerung wohl an den auf der Balearenexpedition umgekommenen Konsul Rodulfus errichtet wurde - ein Beispiel, das nebenbei auch geeignet ist, das singuläre Reiterstandbild des Mailänder Podestà Oldrado da Tresseno in den Kontext der seit dem Ende des 12. Jahrhunderts häufiger nachweisbaren Ehrungen durch Statuensetzungen zu stellen. Ein zweiter Erinnerungskomplex war die im geografischen Zentrum Pisas gelegene, von der städtischen Gemeinschaft gestiftete und lange als Versammlungsort kommunaler Gremien genutzte Kirche San Sisto, deren Patron der Tagesheilige des am 6. August 1087 errungenen Sieges in Nordafrika war.
Heute noch erkennbar ist schließlich die zentrale Bedeutung, die dem auf Initiative der Pisaner Laien gebauten und aus der 1064 in Palermo gemachten Beute finanzierten Dom in der Pisaner Erinnerungslandschaft zukam: Das zeigen schon die Grablegen und -inschriften am Dom - die allerdings nicht zur Annahme eines kommunalen "Ehrenfriedhofs" berechtigen (314) -, die den ersten Baumeister Busketus ehrenden Inschriften, vor allem aber die annalistische Inschrift der Domfassade, die mit der Erinnerung an Erfolge über die Sarazenen sozusagen die Essenz der Pisaner Geschichte des 11. Jahrhunderts festhält. Die epigrafische Erinnerung, die inhaltlich mit einer Wiedergewinnung der profanen Geschichte verbunden war und auf laikale Auftraggeber schließen lässt, markiert eine Abwendung von der frühmittelalterlichen epigrafischen Praxis. Als nicht schriftliche Erinnerungszeichen fungierten Spolien aus dem islamischen Kulturkreis, etwa der Bronzegreif auf dem östlichen Giebel des Domes. Die im Chorbereich eingemauerten antiken Inschriftenfragmente versteht von der Höh - analog zu den typologischen Ausdeutungen der Pisaner Geschichte in der Historiografie - im Bedeutungshorizont der beanspruchten Romebenbürtigkeit Pisas. Die Verbindung der im späteren Mittelalter in Pisa greifbaren Legende von einer freiwillig nach Pisa gekommenen Königin von Mallorca mit dem inhaltlich anders akzentuierten Epitaph für eine mallorquinische Königin an der Domfassade belegt aber auch, dass Inschriften "jenseits der Aktualisierung ihrer Texte durch die Lektüre eine Funktion als Erinnerungszeichen" erfüllen konnten (413).
Historiografie, Inschriften, Trophäen, Spolien und Votivbauten hielten für die Bewohner Pisas ein unverwechselbares Identifikationsangebot bereit: Die Erinnerungskultur im frühkommunalen Pisa schuf das Selbstbild einer über den ungläubigen Feind triumphierenden Stadtgemeinschaft, deren Eintracht gleichzeitig Voraussetzung ihres Erfolgs war. Offensichtlich waren es aber gerade die seit Ende des 11. Jahrhunderts vermehrt auftretenden innerstädtischen Verwerfungen, die den Anlass zu dieser Selbststilisierung gaben.
Marc von der Höh findet in seiner umsichtigen Kontextualisierung der einzelnen Relikte der Pisaner Erinnerungskultur zu einer Fülle überzeugender Einsichten, die nicht nur auf die zentrale Bedeutung hilfswissenschaftlicher Methoden aufmerksam machen, sondern auf künftige Untersuchungen zur kommunalen Kultur zweifellos anregend ausstrahlen werden. Nicht zuletzt sei der Abbildungsteil, aber auch die Übersetzung der komplizierten Inschriften ausdrücklich hervorgehoben: Bei künftigen Pisa-Besuchen wird man darauf dankbar zurückgreifen.
Anmerkungen:
[1] Frank Schweppenstette: Die Politik der Erinnerung. Studien zur Stadtgeschichtsschreibung Genuas im 12. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003. Vgl. die Rezension in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04. 2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/04/7306.html
[2] Rebecca Müller: Sic hostes Ianua frangit. Spolien und Trophäen im mittelalterlichen Genua, Weimar 2002. Vgl. die Rezension in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 5 [15.05.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/05/2055.html
Knut Görich