Peter Brandt / Martin Kirsch / Arthur Schlegelmilch (Hgg.): Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Band 1: Um 1800, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2006, 1224 S., ISBN 978-3-8012-4140-7, EUR 88,00
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Der anzuzeigende Band ist der erste Teil eines verfassungsgeschichtlichen Großprojekts, das vom Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Institut für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität in Hagen getragen wird. Er schafft die Grundlagen für drei weitere Bände, die die verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts im europäischen Kontext darstellen sollen (1815-1847, 1848-1880 und 1880-1914). Sein chronologischer Rahmen ist mit dem Titel "Um 1800" nur ungefähr beschrieben: Er bezeichnet die Epoche der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege, in deren Verlauf der Konstitutionalismus in weiten Teilen Europas zum Durchbruch gelangte; für manche Staaten (z. B. Großbritannien) bedeutete die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert keine markante verfassungsgeschichtliche Zäsur, so dass in der Beschreibung der Ausgangslage der Blick teilweise auf wesentlich ältere Entwicklungen gerichtet werden muss.
Dem Vollständigkeitsgebot eines Handbuchs folgt der Band konsequent: Er berücksichtigt nicht nur die in der fraglichen Epoche bereits bestehenden Staaten und Staatensysteme, sondern greift in drei Fällen (Norwegen, Italien und Ungarn) sogar der historischen Entwicklung vor, um die Genese späterer nationaler Verfassungsstaaten zu veranschaulichen. Bemerkenswert ist der Einbezug des Osmanischen Reiches in die Betrachtung: Die Herausgeber begründen ihn mit dem Verweis auf seine "Präsenz auf dem europäischen Kontinent" und mit ihrem Wunsch, "einen Beitrag zur anhaltenden Diskussion über die Europanähe und -ferne der Türkei aus verfassungsgeschichtlichem Blickwinkel zu leisten" (16). Zumindest für den ersten Teil des Großprojekts fällt dieser Beitrag (Gülnihal Bozkurt, 1138-1152) sehr bescheiden aus und liefert eher historische Argumente für eine Europaferne, die man für diesen Zeitraum allerdings auch Russland attestieren könnte, wie der Beitrag von Michail Dmitrievic Karpačev (1100-1137) nahelegt, der zu den Themen "Wahlrecht und Wahlen", "Grundrechte" oder "Verfassungskultur" im Wesentlichen nur Fehlanzeigen machen kann.
Da auch die Staaten mit einbezogen werden, die von den konstitutionellen Neuerungen der Epoche unberührt blieben, ist der dem Projekt zugrunde gelegte Verfassungsbegriff sehr weit: Er umfasst sowohl die "spezifischen Legitimitäts-, Partizipations- und Ordnungsanforderungen der Moderne" als auch "ältere Inhaltskomponenten, wie sie in unterschiedlichen Ausprägungen und Kombinationen noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nachzuweisen sind". Die Herausgeber haben zwölf Kategorien ausgewählt, mit denen sie die "hauptsächlichen Organisations- und Regelungsbereiche staats- und regierungspolitischen Handelns" (10f.) erfassen wollen: Territorium, Verfassungsstruktur der zentralen staatlichen Ebene, Wahlrecht und Wahlen, Grundrechte, Verwaltung, Justiz, Militär, Verfassungskultur, Kirche, Bildungswesen, Finanzen, Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung/Öffentliche Wohlfahrt.
Die einzelnen Länderbeiträge sind schematisch gegliedert und zeichnen die jeweils wichtigsten Entwicklungen in diesen zwölf Bereichen nach. Der Umfang der Beiträge variiert erheblich: Während die rumänischen Fürstentümer (Bogdan Murgescu und Dietmar Müller) und Portugal (António Manuel Hespanha) auf weniger als 20 Seiten abgehandelt werden, sind andere Beiträge wesentlich breiter angelegt. Dies gilt für die Schweiz (Christoph Guggenbühl, 72 Seiten) und Italien (Werner Daum, 88 Seiten) und vor allem für Frankreich, dem sich fünf Autoren (Martin Kirsch, Werner Daum, Wolfgang Kruse, Rüdiger Schmidt und Armin Owzwar) gemeinsam auf 121 Seiten widmen. Im Mittelpunkt des Bandes stehen allerdings ganz eindeutig "Deutschland und das Habsburgerreich", auf die mit etwas mehr als 300 Seiten ungefähr ein Drittel des für die Länderstudien zur Verfügung stehenden Platzes entfallen. Der Schwierigkeit, den Zerfall des Alten Reiches "um 1800" berücksichtigen zu müssen, sind die Herausgeber mit einer Sechsteilung des Themas begegnet: Zunächst werden das "Alte Reich und der napoleonische Rheinbund" (Edgar Liebmann) als oberste Ordnungseinheiten behandelt, daran anschließend in einer etwas willkürlich anmutenden Unterscheidung die "Napoleonischen Modellstaaten" (Rüdiger Ham und Mario Kandil) und die ebenfalls im engeren französischen Einflussbereich befindlichen "süddeutschen Reformstaaten" (Axel Kellmann und Patricia Drewes) sowie Preußen (Peter Brandt und Kurt Münger), Österreich (Arthur Schlegelmilch) und im Vorgriff auf die noch in sehr weiter Ferne stehende nationalstaatliche Autonomie Ungarn (Gábor Pajkossy).
Die Qualität der Beiträge liegt - in Anbetracht der Vielzahl der Autoren verständlicherweise - nicht auf einem einheitlichen Niveau; insgesamt handelt es sich jedoch um fundierte, quellennah geschriebene [1] und den Forschungsstand gebührend berücksichtigende Darstellungen, die den Band zu einer überaus materialreichen verfassungsgeschichtlichen Sammlung machen, die zur schnellen Orientierung über Details (z. B. durch die den einzelnen Beiträgen beigegebenen Schaubilder) ebenso tauglich erscheint wie zur systematischen Beschäftigung mit bestimmten Problemkreisen. Den Nutzen, den die Vergleichsperspektive eröffnet, haben die Herausgeber aus den Länderstudien selbst nur in Ansätzen gezogen; immerhin skizzieren sie in der ausführlichen Einleitung (38-118) ebenfalls in der Zwölfteilung des Komplexes die Möglichkeiten einer komparatistischen europäischen Verfassungsgeschichte. Diesem Zweck dienen auch zwei übergreifende Beiträge: ein kurzer Aufsatz Werner Daums (119-126), der einen ideengeschichtlichen Abriss des europäischen Verfassungsdenkens um 1800 geben will, aber über die Nennung einiger wichtiger Denker nicht hinauskommt, sowie der etwas breiter angelegte Überblick von Pierangelo Schiera über "Komponenten und Zielrichtung eines europäischen Konstitutionalismus" (127-164), in dem er neben dem englischen und dem französischen Beispiel auch das amerikanische Vorbild, das sonst in dem Band wegen dessen konsequent kontinentaler Beschränkung nicht behandelt wird, als Traditionskomponente vorstellt.
Ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung eines Handbuchs ist seine Benutzerfreundlichkeit. Diese erfüllt der Band mit seiner vorbildlichen Übersichtlichkeit, dem punktuell eingesetzten Kartenmaterial und den grafischen Darstellungen von Staats- und Verfassungsaufbau. Nützlich ist ebenfalls die knappe Auswahlbibliografie, die am Ende des Bandes noch einmal die wichtigsten in den Beiträgen genannten Titel für allgemeine Probleme und die einzelnen Länder zusammenstellt. Problematisch ist dagegen das Sachregister, das für eine größere Zahl von Begriffen (z. B. Adel, Beamte, Gesellschaft, Monarchie, Revolution, Staat/Staatsgewalt, Stand/Stände, Volk) so viele Angaben macht, dass es faktisch unbenutzbar sein dürfte. Das Gesamtbild beeinträchtigen dieser wie auch einige andere Makel (z. B. das Fehlen von Zeittafeln sowie eines Personenregisters oder die bescheidene Druckqualität einiger Abbildungen) jedoch nicht: Wenn die drei folgenden Bände ein ähnliches Niveau erreichen, dürfte sich das Handbuch als ein Standardwerk etablieren, das nicht nur den Liebhabern verfassungsgeschichtlicher Spezialfragen, sondern allen Interessenten an der allgemeinen europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts ein sehr willkommenes Hilfsmittel bieten wird.
Anmerkung:
[1] Hervorzuheben ist die enge Verzahnung vieler Texte mit der von den Herausgebern bereits zuvor kompilierten und auf CD-ROM vertriebenen Quellensammlung: Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Teil 1: Um 1800, Bonn: Verlag J. H. W. Dietz Nachf. 2004, ISBN 3-8012-4144-0, 19,80 €. Die Quellensammlung umfasst 1115 Texte zur gesamteuropäischen Verfassungsgeschichte der Jahrzehnte um 1800.
Frank Engehausen