Thomas Lorenz: "Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!". Der Versailler Vertrag in Diskurs und Zeitgeist der Weimarer Republik (= Campus Forschung; Bd. 914), Frankfurt/M.: Campus 2007, 489 S., ISBN 978-3-593-38332-3, EUR 49,90
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Am Versailler Friedensvertrag von 1919 übten Zeitgenossen nicht nur in Deutschland vernichtende Kritik. Diese ist in der Forschung nach 1945, ohne dass es eine große Kontroverse gegeben hätte, einem milderen Urteil gewichen. Hauptgrund für den Perspektivwechsel war der unbestreitbare Kompromisscharakter des Versailler Vertrags, der in der nach 1945 implizit als Vergleichsmaßstab dienenden Perspektive von Jalta und Potsdam, also im Vergleich zur Teilung Deutschlands und Europas, immer deutlicher hervortrat. Offen bleibt allerdings die Frage, ob im Rahmen dieses Forschungsprozesses die Bedeutung von Versailles als "psychologische, propagandafähige Potenz" (K. D. Bracher) innerhalb des weit verzweigten Ursachengeflechts des Untergangs der Weimar Republik mitunter nicht zu sehr relativiert worden ist.
Eine auf die politischen Mentalitäten in Deutschland fokussierende Wirkungsgeschichte des Versailler Vertrages stellt deshalb zweifelsohne eines der großen Desiderate der Weimarforschung dar. Der vorliegende Versuch jedoch, diese Lücke zu füllen, ist ziemlich danebengegangen. Die Fragestellung bleibt viel zu sehr im Vagen einer methodisch nur vordergründig reflektierten, jedenfalls nicht auf den Gegenstand applizierten "Diskursgeschichte". Vom Versailler Vertrag selbst ist nach Expektorationen zur internationalen Geschichte und zum "Diskurs" überhaupt erst auf Seite 27 die Rede.
Über die gewählte zeitliche Eingrenzung bis zum Jahr 1925 (Locarno) könnte man, etwa aus arbeitsökonomischen Gründen, noch streiten; auch wenn der Autor selbst im schulpolitischen Kapitel auf die 10-Jahres-"Feiern" des Versailler Vertrages 1929 eingeht und damit implizit ein Plädoyer für die Berücksichtigung der späteren Weimarer Jahre hält. Dabei wird allerdings nicht deutlich, dass weniger das Gedenkjahr als vielmehr das Volksbegehren gegen den Youngplan der politisch eigentlich entscheidende Grund ist, weshalb eine Diskursgeschichte von Versailles tunlichst die längere Dauer (bis hin zu Brünings Reparationspolitik) berücksichtigen sollte, um die psychologisch-propagandistische Relevanz des Vertrages erklären zu können.
Hinzu kommt der wenig überzeugende Aufbau der Arbeit. Da geht es wie Kraut und Rüben um parlamentarische Debatten, Schulbücher, Aktionen irgendwelcher Einzelgänger und Spezialverbände, Ausstellungsprojekte, revanchistische Zukunftsromane etc., ohne dass ein chronologischer oder systematischer - oder gar beides kombinierender - Zugriff erkennbar würde. Noch unerträglicher aber ist der Gang der "Argumentation" innerhalb dieser Kapitel, die sich allzu oft in einer ermüdenden Deskription seitenlang paraphrasierter Reden erschöpft, ohne dass eine ordnende Hand am Werke wäre. Aus Ausschussberichten werden die Wortmeldungen lang und länger in der Originalreihenfolge referiert, mitunter ohne auch nur die Parteizugehörigkeit der Abgeordneten für der Rede wert zu erachten oder gar den Versuch zu unternehmen, die Debatte entlang inhaltlicher Strukturen aufzudröseln. Im Bereich der Schulen geht es weniger um Lehrpläne als um seitenlange Sonntagsreden beliebiger Bildungspolitiker zu Versailles. Weniger Stoff zu behandeln, diesen aber viel intensiver wirklich zu untersuchen, wäre jedenfalls mehr gewesen. Aber Warnungen eines der beiden Gutachter, "dass das Thema für eine Dissertation zu groß sei" (488), glaubte der Doktorand in den Wind schlagen zu können.
Die Behandlung des Genres der Zukunftsromane ("Bismarck II.", "Der Tag wird kommen", etc.) befriedigt ebenfalls wenig, weil die Romane nicht nur ohne jeden Sinn für das Wesentliche ellenlang wiedergekäut werden, sondern die - im Rahmen einer Diskursgeschichte doch wohl entscheidende - Frage nach der Rezeption und Diskussion so gut wie ganz unterbleibt. Immerhin wird auch hier eine Fülle ausgesprochen spannenden Materials ausgebreitet. Erwähnt sei nur Reinhold Eichackers "Der Kampf ums Gold". Darin hilft ein Ingenieur, der Gold künstlich herzustellen vermag, Deutschland aus den Fesseln der Reparationsschulden von Versailles zu befreien. Auch Wunderwaffen spielen in diesem und anderen "Zukunftsromanen" eine besondere Rolle.
Den insgesamt ungünstigen Gesamteindruck der Studie verstärkt noch ein wenig erhellendes Resümee. Das weitestgehende Fehlen von Stimmen in Deutschland, die den Versailler Vertrag verteidigt hätten, kommentiert der Autor wie folgt: "Damit ist dieses Nichtvorhandensein solcher Stimmen in der Öffentlichkeit, die vereinzelt durchaus vorhanden gewesen sein dürften, auch ein Indiz für die zurückweisende Sicht der Zeitgenossen auf den Versailler Vertrag als ein Zeitgeistphänomen der Weimarer Republik." (412) Alles klar? Von der leidenschaftlichen Ablehnung des Versailler Vertrags durch breiteste Teile der deutschen Gesellschaft "musste" laut Lorenz zwar "letztendlich die Partei [...] profitieren, die sich am radikalsten gegen Versailles geäußert hatte", doch dies dürfe nicht heißen, dass die Anti-Versailles-Agitation der "Hauptgrund für den Aufstieg der NSDAP" gewesen wäre (419). Nicht nur auf diese zentrale Frage kann das 1925 endende Buch leider überhaupt keine Antwort geben.
Manfred Kittel