Rudolf von Thadden / Steffen Kaudelka / Thomas Serrier (Hgg.): Europa der Zugehörigkeiten. Integrationswege zwischen Ein- und Auswanderung (= Genshagener Gespräche; Bd. X), Göttingen: Wallstein 2007, 176 S., ISBN 978-3-8353-0186-3, EUR 17,00
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Dieser Sammelband nimmt die politische Brisanz der Diskussion um Zugehörigkeiten zum Anlass, die europäische Geschichte "in der 'longue durée' unter dem Blickwinkel der sie stets begleitenden Wanderungsprozesse" (8), die Zugehörigkeiten sowohl generierten als auch zerstörten, neu zu betrachten.
Das erste Kapitel des Sammelbandes, "Europa als Kontinent der In- und Auswanderungen", eröffnet Martin Schulze Wessel mit seinem Beitrag zu Glaubensfluchten im 18. Jahrhundert. Schulze Wessel zeigt anhand dreier Fallbeispiele auf, wie sich bei religiösen Minoritäten angesichts drohender oder tatsächlich vollstreckter Vertreibungen und durch transnationale Kommunikation und Solidarisierung konfessionelle Zugehörigkeiten in europäischer Dimension herausbildeten.
Miroslav Hroch entwirft in seinem Beitrag zu "nationaler Identität und nicht-nationaler Zugehörigkeit" Definitionsvorschläge für die analytischen Begriffe Zugehörigkeit - Identität - bedingungslose Hingabe, die er als drei Typen sozialer Beziehungen zwischen Individuum und Kollektiv sieht, innerhalb derer die Intensität ansteigt.
Michael Werner beschäftigt sich mit ideologischen Bindungen als Ein- und Ausschlusskriterium bei deutschen Migranten in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Migrationserfahrungen verstärkten nationale Identifikationskriterien innerhalb der deutschen Diaspora in Frankreich. Gleichzeitig waren diese Erfahrungen auch ein zentraler Faktor bei der Entstehung der internationalen Arbeiterbewegung, die ja gerade auf die Überwindung nationaler Zugehörigkeiten setzte. Der Autor sieht diese Amalgamierungen sogar als dritte Analysekategorie neben Ein- und Ausschluss.
Den Abschluss des Kapitels bildet Paul-André Rosental mit "einigen Lehren aus den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts." (69) Er sieht diese Lehre vor allem in einer Absage an eine Migrationsgeschichte, die sich zu sehr auf die Rolle als homogen imaginierter Nationalstaaten fokussiert. Rosental hält eine solche Konzeption aus vier Gründen für unzureichend: Erstens der zunehmenden Entwicklung des Völkerrechts und seiner Übernahme in nationales Recht, zweitens der Einschränkung nationaler Souveränität durch bilaterale Verträge, drittens der unterschiedlichen Interessen diverser mit Migration befasster Ministerien und viertens der seiner Meinung nach häufig unterschätzten Bedeutung diplomatischer Aushandlungsprozesse wegen, innerhalb derer Herkunftsstaaten im Namen "ihrer" Migranten Einfluss nahmen. Trotz der differenzierten und ansprechenden Argumentation bleibt die Frage offen, ob bei dieser Betrachtungsweise nicht teilweise idealisierte Vorstellungen nationaler Selbstbeschränkungen zum Tragen kommen. Eine sinnvolle Ergänzung dieser Lesart könnten Brüche in dieser Entwicklung darstellen: So war die Übernahme internationaler Abkommen in nationales Recht durchaus keine Selbstverständlichkeit, sondern kam häufig erst nach Individualklagen oder Druck der Öffentlichkeit in Gang. Ebenso mussten interministerielle Interessenkonflikte nicht zwangsläufig zu einer effektiven Beschränkung der Kontrolle über Migranten führen. Angesichts klarer politischer Machtungleichheiten zwischen Ministerien kam es in vielen Fällen zwar zu Behinderungen einzelner Ressortinteressen, aber nicht unbedingt zu einer Blockierung staatlicher Kontrolle.
Das zweite, deutlich kohärentere Kapitel des Sammelbandes besteht aus drei Artikeln zur Einbürgerung in Frankreich, Deutschland und Polen. Patrick Weil fasst in seinem Beitrag prägnant die Thesen seines Standardwerks Qu'est-ce qu'un Français? zusammen: Weil zufolge war das jus-soli-Modell in der französischen Einbürgerungspolitik durchaus nicht immer dominant. Er wendet sich damit u.a. gegen die von Brubaker vertretene These einer Dichotomie zwischen einem deutschen, ethnisch konstruierten Modell mit jus sanguinis und einem französischen, republikanisch konstruierten Modell mit jus soli. Weils Argumentation zufolge probierte Frankreich seit der Revolution verschiedene Konzepte aus, wobei sowohl Bodenrecht als auch Blutrecht zum Tragen kamen.
Ebenso wie Weil aus der französischen Perspektive wendet sich Dieter Gosewinkel in seinem Beitrag über den deutschen Fall gegen die Brubakerthese und fasst dabei die Thesen seiner breit rezipierten Habilitationsschrift noch einmal zusammen. Gosewinkel zeichnet die Entwicklung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts vom Verfall des Heiligen Römischen Reiches 1806 bis zu seiner grundlegenden Erneuerung im wiedervereinigten Deutschland im Jahr 2000 nach. Er sieht diese Entwicklung nicht, wie von Brubaker angeführt, als ein unter dem Primat ethnisch-biologischer Nationskonstruktion stehendes Kontinuum. Für Gosewinkel hatten zahlreiche sozioökonomische, politische und demografische Faktoren Einfluss auf das Staatsangehörigkeitsrecht.
Die Erfurter Historikerin Claudia Kraft schließt das Kapitel mit einem Überblick zur Entwicklung des polnischen Staatsangehörigkeitsrechts ab. Sie plädiert für eine lange Perspektive in dieser Frage, da sich die Absenz eines eigenständigen polnischen Staates zwischen 1795 und 1918 auch heute auf Diskussionen der polnischen Staatsangehörigkeit auswirkt. Das polnische Modell der Staatsangehörigkeit sieht sie durch zwei Eigenschaften charakterisiert: seine prinzipielle Offenheit und seine kollektivistische Orientierung.
Schirin Amir-Moazami fragt in ihrem Beitrag vergleichend nach den Zugehörigkeiten frommer Muslime in Frankreich und Deutschland. Während sich Muslime in Frankreich eindeutig als Franzosen bezeichnen und deutliches Unbehagen über die Kontrollversuche des Staates gegenüber dem religiösen Feld äußern, betrachten sich Muslime in Deutschland als Außenseiter, die jedoch sehr positive Einschätzungen der gesellschaftlichen und politischen Werte zum Ausdruck brachten.
Trotz der hohen Qualität der Einzelbeiträge wirft die Gesamtkonzeption des Sammelbandes zwei Probleme auf. Zunächst wird der in der Einleitung angekündigte Anspruch einer gemeinsamen Analysekategorie - eben der der Zugehörigkeit - letztlich in den Beiträgen nicht eingelöst. Vielmehr kommen in den einzelnen Artikeln, neben dem Begriff der Zugehörigkeit, so unterschiedliche Begrifflichkeiten wie Integration, Inklusion, Assimilation und Identität zur Anwendung. Die besondere Eignung der letztlich eher diffus bleibenden Analysekategorie Zugehörigkeit wird im Sammelband nicht deutlich. Damit verbunden ist ein Quellenproblem: Die Herausgeber formulieren ihren Begriff von Zugehörigkeit in der Einleitung als "Gefühl einer mehrere Lebenswelten umfassenden Wahrnehmung." (7) Um ein solches Gefühl zu untersuchen, wäre jedoch die Auswertung von Egodokumenten oder lebensgeschichtlichen Interviews notwendig - ein solches Vorgehen findet sich jedoch nur in wenigen Beiträgen. Ungeachtet dieser beiden Einwände ist dem Sammelband aufgrund der gut lesbaren und auf der Höhe der Forschung argumentierenden Beiträge eine breite Leserschaft - gerade auch unter Studierenden - zu wünschen.
Jenny Pleinen