Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart: Klett-Cotta 2008, 864 S., 44 Karten und Tabellen, ISBN 978-3-608-94308-5, EUR 45,00
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Die Gesamtdarstellung der Weimarer Republik aus der Feder von Ursula Büttner ist als Nachschlagewerk und fortlaufende Erzählung zugleich angelegt und dem Konzept einer politischen Sozialgeschichte verpflichtet (17f.). Der konzeptionelle Zugriff und die Verlagsankündigung legen nahe, dass diese Geschichte der ersten deutschen Demokratie in absehbarer Zeit in leicht veränderter Form in die seit einigen Jahren erscheinende Neuauflage von Gebhardts Handbuch der deutschen Geschichte integriert wird.
Die an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg tätige Sozial- und Wirtschaftshistorikerin entscheidet sich für eine Mischung aus chronologischem und systematischem Zugriff. Einem kurzen einleitenden Kapitel über Tendenzen und Aufgaben der Forschung (11-18) folgen vier größere Abschnitte: Begründung und Bedrohung der Demokratie 1918-1923 (19-208), Deutschland in den zwanziger Jahren: eine Gesellschaft zwischen Beharrung und Fortschritt (209-334), Stabilisierung auf gefährdeter Grundlage 1924-1930 (335-395) sowie Wirtschaftsdepression, Staatskrise und nationalsozialistischer Angriff: der lange Untergang der Republik (397-509). Dem Textkorpus schließt sich ein umfangreicher Anhang an. Er enthält den Anmerkungsapparat, ein übersichtlich gegliedertes Quellen- und Literaturverzeichnis, eine rasche Orientierung ermöglichende Zeittafel, die bereits im Inneneinband befindliche Karte, zahlreiche Tabellen und Grafiken sowie zuverlässige Orts- und Sach- bzw. Personenregister.
Weil Büttner mit guten Gründen auf das Ursachengeflecht abhebt, das zum Untergang der Republik führte, nimmt sie im ersten Großkapitel insbesondere die langfristig wirkenden Defizite der Weimarer Anfangszeit in den Blick. Auch wenn die Revolution von 1918/19 die Monarchien hinwegfegte und erste soziale Errungenschaften mit sich brachte: Auf unterschiedlichen Ebenen werden ungenutzte Chancen und die Problematik der Kontinuität zum Kaiserreich ausgeleuchtet. So verblieben die alten Eliten in Amt und Würden, in Verwaltung, Wirtschaft und Militär ebenso wie in der Außenpolitik: Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, Leiter der deutschen Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz, knüpfte in Stil und Auftreten an das überhebliche diplomatische Gebaren der Wilhelminischen Ära an. Gesellschaftliche Gruppen und Verbände betrieben weiterhin am Parlament vorbei Politik, das sogenannte Stinnes-Legien-Abkommen zwischen Industrie und Gewerkschaften ist dafür ein frühes Beispiel. Aber auch der überwiegende Teil der Bevölkerung erlebte Revolution und demokratische Anfänge vor allem als Belastung und Bedrohung: Hunger und Hamsterfahrten standen lange auf der Tagesordnung, Schwarzmärkte blieben weiter unverzichtbar, (antisemitischer) Terror und Gewalt - auch gegen führende Repräsentanten der Republik - bestimmten den politischen Alltag im ersten Jahrfünft, die bald einsetzende Inflation vernichtete oftmals den letzten Notgroschen und auch die Reparationszahlungen zeitigten fatale Folgen.
Im systematischen Kapitel über die Weimarer Gesellschaft und Kultur finden sich jeweils knappe Ausführungen zu Bevölkerungsbewegungen, Landwirtschaft und Industrie ebenso wie zu einzelnen sozialen Gruppen, zu Frauen und Jugend, zu Protestanten, Katholiken und Juden oder auch zu Literatur, Kunst und Medien. In den Mittelpunkt rückt Büttner hier die vielfältigen Zerklüftungen und Spannungen einer Gesellschaft zwischen Moderne und Tradition, die sich in unversöhnlichen politischen Konflikten niederschlugen und die auch die vermeintlich stabile Phase zwischen 1924 und 1930 prägten.
Die beiden folgenden chronologischen Kapitel sind wiederum den zentralen (sozial)politischen Weichenstellungen und Themen gewidmet. In den Blick geraten die konservative Wende mit den beiden Reichstagswahlen des Jahres 1924 sowie der ersten Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925, die außenpolitischen Verständigungsbemühungen Stresemanns und nicht zuletzt das Scheitern der letzten großen parlamentarischen Koalition unter Hermann Müller. Hier werden auch in besonderer Weise die Leistungen der Weimarer Zeit akzentuiert: Die Grundlagen des modernen Sozialstaates - der bereits in der Revolution etablierte Achtstundentag, Ansätze betrieblicher Mitbestimmung, sozialer Wohnungsbau und nicht zuletzt die 1927 eingeführte Arbeitslosenversicherung -, an welche die junge Bundesrepublik dann anknüpfen konnte. Deutlich arbeitet Büttner abschließend heraus, wie sich unter der Dunstglocke der Weltwirtschaftskrise die tendenziell offene politische Situation fundamental verengte und den Aufstieg der NSDAP ermöglichte. Detailliert wird der Untergang der Republik in der Ära der Präsidialkabinette skizziert. Die in der Forschung stark umstrittene Deflationspolitik des 'Hungerkanzlers' Brüning gerät dabei ebenso auf die Agenda wie das Kabinett der Barone unter Papen oder das von Beginn an zum Scheitern verurteilte Querfrontkonzept Schleichers. Bei der Gretchenfrage nach der Verantwortung für die Bestallung Hitlers hält Büttner an der altbekannten Forschungssicht fest, wonach die engsten Vertrauten (etwa Otto Meißner, Oskar von Hindenburg und Franz von Papen) den greisen Reichspräsidenten entscheidend beeinflusst hätten. Dagegen steht die jüngst mit guten Argumenten entwickelte These Wolframs Pytas, wonach nicht deren Einfluss maßgeblich war, sondern die Wahl Hitlers nach anfänglichem Zögern vielmehr konsequent aus Hindenburgs politischem Denken und Handeln sowie aus seinem langgehegten Wunsch nach einem 'Kabinett der nationalen Konzentration' folgte. [1]
Die bewusste und auf der konzeptionellen Linie der neuen Gebhardtauflage liegende Entscheidung für eine politische Sozialgeschichte der Weimarer Zeit lässt jüngere Forschungsfelder unterbelichtet. Wer nach körper-, erinnerungs- und umweltgeschichtlichen oder transnationalen Perspektiven sucht, wird hier nicht fündig. Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass der Spagat zwischen grundsolidem Nachschlagewerk und fortlaufender Erzählung gut gelungen ist. Die Stärken dieser sprachlich wohltuend zurückhaltenden und ausgewogenen Einführung liegen zweifellos in den wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Passagen (etwa die Kapitel zur Inflation, zum Dawesplan oder zur Wirtschaftskrise). Anregend und empfehlenswert ist die Lektüre des Buches aber auch, weil Ursula Büttner nicht nur zentrale Forschungskontroversen souverän bündelt, sondern auch immer wieder wichtige Hinweise auf Forschungsdefizite liefert (genannt seien nur Adel, Bürger und Bauern als noch wenig durchleuchtete Akteure in der Revolution 1918/19 oder das bislang kaum erforschte protestantische Milieu).
Anmerkung:
[1] Wolfram Pyta: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007. Vgl. hierzu die Rezension, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 6; URL: http://www.sehepunkte.de/2008/06/13602.html.
Nils Freytag