Anuschka Albertz: Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 17), München: Oldenbourg 2006, 424 S., 43 Abb., ISBN 978-3-486-57985-7, EUR 64,80
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Die Schlacht an den Thermopylen, bei der ein Kontingent griechischer Poleis unter der Führung des spartanischen Königs Leonidas vom persischen Invasionsheer fast völlig aufgerieben wurde, gehört zu den bekanntesten Ereignissen der antiken Geschichte überhaupt. Anuschka Albertz hat in ihrer umfangreichen Dissertation die Rezeptionsgeschichte dieser Schlacht von der Antike bis zur Gegenwart aufgearbeitet und dabei aufgezeigt, in welchen ideengeschichtlichen Kontexten und innerhalb welcher politischer Konjunkturen der Rückgriff auf die Thermopylenschlacht opportun erschien und welche Sinnstiftungen damit verbunden waren.
Albertz untersucht zunächst den Umgang der antiken Nachwelt mit der Niederlage am Thermopylenpass. Zutreffend sieht sie bereits den ersten zusammenhängenden Bericht über die Schlacht selbst, die Darstellung bei Herodot, als Beispiel für die Gestaltung des Stoffs von der Niederlage zur Heldenlegende. Die panhellenischen Implikationen der Darstellung einer eigentlich spartanischen "Heldengeschichte" arbeitet sie ebenso detailliert heraus wie die nach wie vor offenen Fragen: Selbst der exakte Ort der Schlacht ist bis heute ungeklärt, ebenso wie die für den Schlachtverlauf zentrale Frage nach den möglichen Umgehungsmöglichkeiten für die Perser. Bereits in dieser frühen Phase, im fünften Jahrhundert v.Chr. selbst, sind die beiden grundsätzlichen Deutungsmuster angelegt, die für die Rezeptionsgeschichte in der Folgezeit wichtig werden: Die eine Deutung nimmt stärker das Ergebnis der Schlacht als Niederlage in den Blick und erklärt diese durch Verrat, die andere akzentuiert den Kampf, der kein Aufgeben zulässt. Beides sollte, wie Albertz eindrucksvoll belegen kann, für künftige Deutungen entscheidend werden. Auch die weitere antike Rezeptionsgeschichte wird von der Autorin erfreulicherweise nicht übergangen: Insbesondere den Umgang der attischen Redner mit der Schlacht beleuchtet sie ausführlich, wenngleich in der Akzentuierung gerade im Vergleich zu anderen Perserschlachten vielleicht nicht immer zutreffend: So liegt in der Kontextualisierung der Schlacht mit den vorgeblich allein athenischen Siegen von Marathon, Salamis oder Plataiai sicherlich mehr Abwertung (Sparta tritt hinter Athen als Schutzmacht von Hellas zurück), als die Autorin zugesteht. Für die römische Zeit konstatiert Albertz einen Enthistorisierungsschub, der die Schlacht als Paradigma universal verfügbar macht.
Während Albertz' Studie für den antiken Bereich der Schlachtrezeption eher konventionell wirkt und letztlich nicht viel Neues bringt, entfaltet sie im diachronen Vergleich große Stärken. Mit der Analyse der Rezeption der Schlacht in der Neuzeit gelingt Albertz ein wirklich großer Wurf: So arbeitet sie detailliert und präzise heraus, wie die Schlacht im Umfeld der Französischen Revolution zu einem historischen Exemplum werden konnte. Die Ursache dafür sieht die Autorin in drei Bereichen: Im gesteigerten Interesse des Bürgertums, den Antikenrekurs als Distinktionsmerkmal gegenüber dem Adel zu prägen, in der politischen Aktualisierung antiker Inhalte mit politisch-sozialen Forderungen der Gegenwart und drittens im Aufkommen des politischen Totenkults. Detailliert untersucht Albertz, wie in verschiedenen Medien die Thermopylenschlacht zu einem normativen Vorbild und Leitbild gestaltet werden konnte. Besonders prägnant ist dabei die Analyse des Gemäldes von David gelungen, bei der nicht nur die reine Bildanalyse, sondern eine umfassende Kontextualisierung des Kunstwerks überzeugt. So arbeitet Albertz heraus, dass in der Thermopylenschlacht die grundsätzliche Überlegenheit republikanischer Heere verkörpert gesehen wurde, weil dort freie Bürger ihren Staat verteidigen. Das Simonides-Epigramm wurde neu gedeutet: Der Gehorsam gegenüber den Gesetzen wurde nun im Sinne einer Freiheit gedeutet, die der politischen Rahmensetzung bedurfte. So war die Rezeption der Schlacht mit dem Diskurs der aufgeklärten Staatsphilosophie eng verknüpft und zugleich als ein aus konkreten historischen Bezügen gelöstes Beispiel für den politischen Totenkult verfügbar. Bemerkenswert ist auch, dass Albertz zeigen kann, dass die aus der Thermopylenepisode abgeleiteten Maßstäbe für viele europäische Philhellenen zur Enttäuschung wurden, als die modernen Griechen um ihre Unabhängigkeit kämpften.
Für Deutschland kann Albertz zwei unterschiedliche Rezeptionsmuster aufzeigen: Während auch hier im liberal-demokratischen Diskurs Leonidas als der Prototyp des Bürgersoldaten, der für sein Gemeinwesen kämpft und fechtet, auftaucht, kann die Thermopylenschlacht immer auch als militärisches Beispiel verstanden werden, das eine professionelle Würdigung jenseits nationaler und politischer Loyalitäten ermöglicht. So war die Thermopylenschlacht in Deutschland immer auch auf der konservativen Seite als historisches Paradigma verfügbar. Für die Folgezeit konstatiert Albertz, dass die Schlacht zunehmend als festes Element in das Schul- und hochkulturelle Bildungswissen integriert wurde und so als historischer Bezugspunkt immer wieder aktualisierbar und verfügbar blieb, ohne dass bis zur Jahrhundertwende noch wesentlich neue Aspekte hinzugetreten seien.
Im Schlusskapitel schließlich zeigt Albertz, wie die Thermopylenschlacht in der politischen Kultur insbesondere der Weimarer Republik zum Vorbild für den politischen Totenkult werden konnte, in der insbesondere das Simonides-Epigramm in seiner nunmehr kanonisch gewordenen Schiller-Übersetzung zu einem omnipräsenten Symbol werden konnte, mit dem an eine abstrakte "Pflichterfüllung" gegenüber dem Vaterland erinnert werden konnte. Das inzwischen zum Kanon der höheren Schulbildung gehörige Beispiel der Thermopylenschlacht konnte so schließlich während des Nationalsozialismus seine in der deutschen Geschichte vielleicht wirkungsmächtigste Aktualisierung erfahren, als Hermann Göring nach der Schlacht von Stalingrad den antiken Kampf dazu missbrauchte, den Durchhaltewillen von Wehrmacht und Zivilbevölkerung zu erzwingen. Anhand dieser Rede entfaltet Albertz' Analyse ihre größten Stärken: Umfassende Kontextualisierung, detailscharfe Interpretation und Einordnung in den diachronen Gesamtzusammenhang machen die großen Vorzüge der Monografie aus.
Albertz legt dabei methodisch das Konzept des "historischen Exempels" zugrunde. Dieser aus der römischen Rhetorik gewonnene Begriff soll historisch als vorbildlich verstandenes Verhalten definieren, das als normativ gewordenes Leitbild jederzeit zitierfähig und vor allem aktualisierbar ist. Diesen Begriff setzt Albertz scharf von dem des "Mythos" ab, der vielfach für entsprechende Erzählungen verwendet werde und dessen analytische Kraft sie für gering hält. Hierzu muss vielleicht angemerkt werden, dass Albertz' Begriff des "Exempels" methodisch recht unscharf bleibt, sie selbst spricht davon, dass die Exempla als historisches Beispiel normativ verstandenen Verhaltens "ausgesprochen praxisbezogen" (16) seien. Die Frage, was ein "Exempel" zu einem solchen macht (und andere nicht), wie "Exempel" Akzeptanz gewinnen (oder verlieren) können, bleibt methodisch einigermaßen unscharf. Dies mag aber vielleicht dem Thema selbst geschuldet sein: Pierre Norás "lieux de mémoire" gewinnen ihre Prägnanz auch weniger aus der analytischen Tiefenschärfe der begrifflichen Kategorien als aus der historischen Analyse selbst. So ist es wohl auch mit Anuschka Albertz' Arbeit: Das historische Methodenrepertoire ist nicht grundsätzlich erweitert worden - aber es ist brillant angewendet worden. Insofern ist die Arbeit ein Exempel für die diachrone Analyse der Erinnerung an eine antike Schlacht. Es bleibt zu hoffen, dass andere Arbeiten hier bald auch Vergleichsmöglichkeiten schaffen, die in ähnlicher Tiefenschärfe vorgehen und ähnlich überzeugende Ergebnisse erzielen.
Michael Jung