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Rezension von:
Udo Wengst
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Udo Wengst: (Rezension), in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1 [15.01.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/01/14414.html


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Daniel Cohn-Bendit / Rüdiger Dammann (Hgg.): 1968

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"1968", d.h. die Revolte der Studenten an den Hochschulen in zahlreichen - vor allem - westlichen Staaten, gehört zu den Ereignissen, die im historischen Gedächtnis der jeweiligen Gesellschaften tiefe Spuren hinterlassen haben. Wie bei anderen ähnlichen Zäsuren - z.B. das Ende des Zweiten Weltkrieges oder der Fall der Berliner Mauer - führt dies dazu, dass im Abstand von 20, 30, 40 usw. Jahren das jeweilige Thema von den Medien erneut in die Öffentlichkeit gebracht wird und die Verlage bemüht sind, einschlägige historische Werke auf den Markt zu werfen. Insbesondere die Zeitgeschichte ist daher mitunter in der Gefahr, zu einer "Jubiläumswissenschaft" zu werden, an der sich Historiker deshalb gern beteiligen, weil sie damit auf eine größere Resonanz als üblich in der Öffentlichkeit stoßen und höhere Verkaufszahlen für ihre Werke erzielen. "1968" ist darüber hinaus insofern ein Sonderfall, als einige Akteure der damaligen Zeit herausgehobene Positionen erlangt haben oder aber selbst zu Historikern geworden sind, die sich ausgiebig mit der eigenen Vergangenheit in ihren "wilden Jahren" auseinandersetzen. Bei den im Folgenden zu besprechenden Büchern handelt es sich um eine Auswahl von Werken, die verschiedenen Typen von Geschichtsschreibung zuzuordnen sind.

Da ist zunächst die Erinnerungsliteratur, für die ein Sammelband steht, den Daniel Cohn-Bendit - damals ein führender "68er" in Paris und heute Europa-Abgeordneter der Grünen - und Rüdiger Dammann herausgegeben haben. Die Beiträge zeichnen durchweg ein positives Bild von den "68ern" und ihrer Wirkung auf Politik und Gesellschaft. Wer nach Differenzierung sucht, wird in dem Band selten fündig. Es dominieren Einschätzungen, die allzu platt und einseitig und wissenschaftlich längst überholt sind (z.B. die Reduzierung der Ära Adenauer auf Wiederbewaffnung und Restauration, Gabriele Gillen, 110; oder die These, dass die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld Bundeskanzler Kiesinger versetzte, als "Beginn einer offenen Auseinandersetzung mit der Verleugnung der NS-Zeit" zu bewerten sei, Wolfgang Schmidbauer, 165). Dagegen fällt der Beitrag von Gerd Koenen weitaus differenzierter aus, wenn er z.B. feststellt, dass der "Vorwurf der Restauration [...] nur sehr begrenzt die gesellschaftlichen Realitäten dieses Provisoriums einer Republik" traf (145) und außerdem die "Dritte-Welt-Politik" der "68er" deutlich kritisiert.

Gerd Koenen, der von 1967 bis Ende der 1980er Jahre nach eigenen Angaben "das volle Programm des linksradikalen Aktivismus" absolvierte (Klappentext) und heute als Geschichtsschreiber der bundesdeutschen und internationalen Linken (u.a. Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977) wirkt, hat auch die Einleitung zu einem beeindruckenden Bildband "1968. Bildspur eines Jahres" geschrieben, die unter dem Titel "Mein 1968" steht. Auch hierin ist das Bemühen um eine differenzierende Darstellung unverkennbar, aber ebenso die Parteinahme für die "68er".

Als Zeitzeuge, weniger als Akteur bezeichnet sich Wolfgang Kraushaar, der ab September 1968 an der Universität Frankfurt am Main studierte, den Trägern der studentischen Revolte zumindest nahe stand und heute als Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt "Protestbewegungen in der Bundesrepublik und in der DDR" am Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitet. Er hat unter der Überschrift "Achtundsechzig" eine umfassende Darstellung vorgelegt, die die Entstehung, die Aktionen, Personen und Kampagnen sowie die Wirkungen der Revolte einer analytischen Betrachtung unterzieht. Bei allem immer wieder zum Ausdruck gebrachten Verständnis und Wohlwollen für die "68er" schlägt Kraushaar aber auch kritische Töne an. So verweist er z.B. darauf, dass "aktivistische Teile der 68er" von der "Kulturrevolution" in China begeistert gewesen seien, die Kraushaar als "totalitäre und blutrünstige Kampagne" bezeichnet (116f.). Ebenso stellt er nachdrücklich fest, dass die Antinotstandskampagne der "68er" nicht auf die Verbesserung der vorliegenden Entwürfe abzielte, sondern einen Angriff auf den Verfassungsstaat selbst darstellte (174). Differenziert fällt auch das abschließende Urteil Kraushaars über den Erfolg der "68er" aus. Er gesteht ihr - im Gegensatz zur mehrheitlich vertretenen Meinung - zu, politische Teilerfolge erzielt zu haben, wobei er allerdings mit letztlich nicht belegbaren Vermutungen operiert, was Ausdrücke wie "womöglich", "vermutlich" (287f.) belegen. Dagegen bewertet er die Bilanz der "68er" in soziokultureller Hinsicht negativer, da sie nicht nur für einen "starken Reformimpuls" stünden, "sondern zugleich auch für einen fundamentalen Angriff auf die Gesellschaft als einen Traditionszusammenhang von Identitätsmustern, Werten und Mentalitäten" (288).

Mit Reinhard Mohr und Albrecht von Lucke ist auf zwei Autoren einzugehen, die nicht mehr zur "68er"-Generation gehören und als Journalisten arbeiten. Ihre beiden Werke "Der diskrete Charme der Rebellion" und "68 oder neues Biedermeier" lassen sich aber trotz aller Differenzierungsversuche als Sympathiebezeugungen für die "68er" einschätzen. Beide Bücher sind Sachbücher eher feuilletonistischer Machart, wobei Mohr sich im Wesentlichen auf die Ereignisse Ende der 1960er Jahre konzentriert, während Albrecht von Lucke einen Essay über die Jahre von 1967 bis 2007/2008 geschrieben hat, in dem er sich mit dem "Kampf um die Deutungsmacht" auseinandersetzt. Sowohl Mohr als auch von Lucke sind von der herausragenden Bedeutung von "1968" überzeugt. So sagt der erste, "dass die Revolte zwischen 1967 und 1969 tatsächlich eine folgenreiche Zäsur der deutschen Nachkriegsgeschichte war, nur vergleichbar mit Mauerfall und Wiedervereinigung 1989/90" (15), und der zweite hält "1968" für eine "Zäsur, die in ihren traumatischen Folgen bis heute nachwirkt" (7). Mohr führt die "Liberalisierung und Modernisierung der Gesellschaft" der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren auf das Wirken der "68er" zurück (238) und von Lucke stellt ohne Einschränkung fest, dass "1968" in allen Bereichen und weit über das linke Spektrum hinaus für den "Beginn gesellschaftlicher Emanzipation und politischer Partizipation" stand (78).

Zum Abschluss sind die Werke von Historikern vorzustellen, die selbst nicht zur 68er-Generation gehören und sich - von Zeitzeugenschaft im eigentlichen Sinn unbeeinflusst - als Wissenschaftler mit dem Thema auseinandersetzen. An erster Stelle ist dies Ingrid Gilcher-Holtey, Zeithistorikerin an der Universität Bielefeld, die schon mehrere Werke über "68" publiziert hat. An zweiter Stelle ist Norbert Frei zu nennen, Zeithistoriker an der Universität Jena und bisher nicht durch Veröffentlichungen über die "68er" ausgewiesen. Schließlich soll noch auf ein Buch von Stefan Wolle eingegangen werden, Mitarbeiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin und Spezialist für die DDR-Geschichte. Dementsprechend hat er sich auch allein mit der DDR 1968 beschäftigt. Im Unterschied zu Wolle versuchen Ingrid Gilcher-Holtey und Norbert Frei das Thema in seiner globalen Dimension zu erfassen und dies auf begrenztem Raum abzuhandeln. In beiden Fällen handelt es sich nicht um originäre Forschungsbeiträge, sondern um Bilanzierungen auf der Basis noch ungenügender Forschungsergebnisse, wobei beide Autoren ihre Werke gänzlich unterschiedlich angelegt haben.

Ingrid Gilcher-Holtey, die wie die meisten der bisher genannten Autoren davon überzeugt ist, dass "1968 einen Einschnitt [...] in der Zeitgeschichte nach 1945" markiert (8), unternimmt in ihrem Werk eine "Zeitreise" durch das Jahr 1968. Sie schildert einen Ablauf von Szenen, porträtiert die jeweiligen Akteure und bezieht, da sie "1968" mit Recht als "globales Phänomen" versteht, neben der Bundesrepublik nicht nur die westlichen Industriestaaten, sondern auch die chinesische "Kulturrevolution" und den "Prager Frühling" in ihre Darstellung ein. Auf diese Weise gelingt es ihr in der Tat auf beeindruckende Weise, "1968" in seinen weltweiten Zusammenhängen zu veranschaulichen und die Revolte als Signum dieses Jahres an vielen Stellen in der Welt deutlich zu machen und dabei auch die über die jeweiligen Grenzen hinausgehende Zusammenarbeit wichtiger Akteure in den Blick zu nehmen. Dabei kommt die Analyse wichtiger Zusammenhänge nicht zu kurz und ebenso gelingt es ihr, wichtige Unterschiede herauszuarbeiten (z.B. die Differenzen im Denken der Studentenopposition in Ost und West, 120f.). Ingrid Gilcher-Holtey hält mit ihrer (vielleicht) zu positiven Bewertung der "68er" nicht hinter dem Berg (202f.), zeigt aber eine bemerkenswerte Zurückhaltung, wenn es darum geht, deren Einfluss auf die "Fundamental-Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft" der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren - die sie unterstellt - zu bestimmen. Sie hält es nämlich nicht für möglich, den eigenständigen Beitrag "sozialer Bewegungen auf politische, soziale und kulturelle Entwicklungen" zu isolieren (206).

Wie Ingrid Gilcher-Holtey will auch Norbert Frei den "globalen Protest" behandeln. Dabei geht er allerdings völlig anders und sehr konventionell vor. Ausgehend von den Ereignissen in Paris im Mai 1968 (22 Seiten), schildert er auf doppelt so vielen Seiten den Protest in den USA ("Am Anfang war Amerika"), um dann auf 75 Seiten noch deutlich ausführlicher auf die Bundesrepublik Deutschland einzugehen ("Ein deutscher Sonderweg?"). Hierauf folgen Abrisse in der Länge von sechs bis zehn Seiten der jeweiligen "Proteste" in den Ländern des Westens (Japan, Italien, Niederlande und Großbritannien) und der "Bewegung im Osten" (Tschechoslowakei, Polen und die DDR). Die Dominanz Deutschlands findet sich auch im Epilog wieder, in dem Norbert Frei den Schwerpunkt auf die "bundesdeutsche Bilanz" legt. Überzeugend ist diese Gliederung beileibe nicht, da sie die bundesrepublikanische Entwicklung allzu sehr hervorhebt und die globalen Zusammenhänge weniger in den Blick zu rücken vermag als Ingrid Gilcher-Holtey. Diese Konzentration auf die Bundesrepublik ist wohl den sonstigen Forschungsinteressen Norbert Freis geschuldet, die sich auf die bundesdeutsche "Vergangenheitspolitik" konzentrieren. Wohl nicht zuletzt darauf ist zurückzuführen, dass er bestrebt ist, auch "1968" in der Bundesrepublik vorrangig in diesen Zusammenhang zu stellen.

Stefan Wolle wiederum schreibt lediglich über den "Traum von der Revolte", da es bekanntlich in der DDR keine Revolte gegeben hat. Allerdings kann er aufgrund der Auswertung von Stasiberichten die Angst der Machthaber in der DDR vor den Auswirkungen der Revolte im Westen und sodann des "Prager Frühlings" auf die Bevölkerung der DDR ebenso nachweisen wie die Tatsache, dass es kulturelle Einflüsse der westlichen Protestbewegung auf die DDR gab und vor allem die Vorgänge in der Tschechoslowakei einen hohen Stellenwert in der Wahrnehmung der DDR-Bevölkerung einnahmen. Infolge der Niederschlagung des "Prager Frühlings" kam es auch zu Protesten in der DDR. Wolle vertritt die These, dass die SED 1968 die Unterstützung gerade der jungen Generation endgültig verloren habe und von hier aus ein gerader Weg zur Revolution von 1989 führe. Er begründet diese These vor allem damit, dass die Demonstrationen in der DDR 1989 von der Generation der 40-Jährigen angeführt worden seien, die er als die ehemaligen "68er" in der DDR bezeichnet.

Nach dieser Kurzvorstellung der hier zu rezensierenden Bücher soll abschließend auf drei Problemkreise eingegangen werden, die im Zusammenhang mit "1968" von besonderer Bedeutung erscheinen. Dabei geht es um die Fragen nach

1. den Auslösern für die fast weltweite Revolte der Studenten,

2. einem "deutschen Sonderweg" auch in der "68er-Revolte" und

3. den Wirkungen von "1968".

1. Fast alle der hier erwähnten Autoren verweisen auf die zentrale Rolle des Vietnamkriegs, des ersten "Fernseh-Kriegs", wie Daniel Cohn-Bendit schreibt (Cohn-Bendit, 15). Kraushaar sieht im Vietnamkrieg einen "Katalysator für die Radikalisierung der Protestbewegung" (Kraushaar, 104) und auch Norbert Frei bewertet den Vietnamkrieg als das Thema, aus dem die "Protestbewegung" grenzübergreifend "ihre Energie bezog" (50). Ähnlich fällt die Bewertung von Ingrid Gilcher-Holtey aus, die den "Protest gegen den Vietnamkrieg" überall als einen "zentralen Mobilisierungsfaktor" der Protestbewegung ausmacht (8).

Mit Recht verweist sie aber auch darauf, welche Bedeutung in Frankreich und Italien - aber auch in der Bundesrepublik - die "beispiellose Expansion des tertiären Bildungssektors" gehabt hat, "die eine Strukturkrise an den Universitäten ausgelöst" habe (100). Auf die Bedeutung der Universitäten verweist auch Wolfgang Kraushaar, betont dabei aber zu Recht, dass diese bald nur als Schauplatz der Auseinandersetzungen interessant waren, da es dem Kern der "68er" nach kurzer Zeit nicht mehr um Reformen zu tun war, sondern sie in den Hochschulen nur noch "Bastionen [....] für künftige Klassenkämpfe" sahen (Kraushaar, 572).

Konstitutiv für die Revolte Ende der 1960er Jahre war schließlich ein Generationenkonflikt. Auf die Bundesrepublik bezogen hat Klaus Hartung erstmals 1978 von einer "68er-Generation" gesprochen und damit den Revoltierenden in der Bundesrepublik erst ihren heute so geläufigen Namen gegeben (von Lucke, 28f.). Hiermit richtet sich der Blick auf die Bundesrepublik und die Frage nach der Bedeutung der NS-Vergangenheit für die "68er-Bewegung".

2. Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die meisten Autoren die These einer "unbewältigten Vergangenheit" in der Bundesrepublik bis weit in die 1960er Jahre hinein vertreten und unterstellen, dass die angeblichen Versäumnisse der Väter den Generationenkonflikt ausgelöst haben. So ist für Wolfgang Schmidbauer das "vergessene 'Erinnern' [....] ein wichtiger Angriffspunkt der Protestbewegung" (Cohn-Bendit, 165), und Bahman Nirumand stellt ohne jede Einschränkung fest: "Ein Abrechnen mit der Vergangenheit gab es nicht" (Cohn-Bendit, 228). Albrecht von Lucke sieht es als Verdienst der "68er" an, "die Verdrängung der Vergangenheit [...] öffentlich gemacht" zu haben (15), und Reinhard Mohr sieht in "1968" den Versuch, "das fortgesetzte Trauma jener 'unbewältigten Vergangenheit' des nationalsozialistischen Terrors [...] aus eigener Kraft, gleichsam freudianisch, zu überwinden" (31). In das gleiche Horn stößt auch Wolfgang Kraushaar, der in "der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Judenvernichtung als ihrem Tiefstpunkt [...] einen historischen Resonanzboden" für die "68er-Bewegung" ausmacht, da er unterstellt, dass erst in den 1960er Jahren "eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit" begonnen habe (72). Auch Norbert Frei wiederholt seine altbekannte These von der "unbewältigten Vergangenheit", die in den "politisch-moralischen [...] Skandalen der nahezu ungebrochenen respektive fast vollständig wiederhergestellten Kontinuität der Funktionseliten vom 'Dritten Reich' zur Bundesrepublik" zum Ausdruck gekommen sei und der hieraus eine "vergangenheitspolitische [...] Aufladung des Konflikts" zwischen den Generationen in der Bundesrepublik ableitet (78).

Es gibt eine Fülle zeitgeschichtlicher Untersuchungen, die belegen, wie wenig diese Urteile der Kritik standhalten. Zudem lässt sich nachweisen, wie gering das konkrete historische Interesse der "68er" am Nationalsozialismus und seinen Opfern war. Auch Norbert Frei muss konzedieren, dass den "68ern" der "historische Nationalsozialismus" zunehmend aus dem Blickfeld geriet - sofern er sich überhaupt jemals darin befunden hat - und sie durch die "Universalisierung des Faschismusvorwurfs [...] tendenziell zu einer Verharmlosung des 'Dritten Reichs'" beitrugen (222). Eine ähnliche Formulierung findet sich auch bei Wolfgang Kraushaar (74f.) Das führt aber weder bei ihm noch bei Frei dazu, die nur sehr bedingt haltbaren Positionen über den Stellenwert der NS-Vergangenheit und ihre spezifische Aufarbeitung in der Bundesrepublik für die "68er-Bewegung" zu überdenken.

3. Sehr viel differenzierter fallen die Bewertungen Norbert Freis aus, wenn er sich über die Wirkungen von "1968" äußert. So gesteht er den Revoltierenden zu, "das Lebensgefühl einer Generation verändert" zu haben, um sogleich aber einschränkend hinzuzufügen, dass "die Protestgeneration" zum Teil "durch Tore rannte, die andere längst vor ihr geöffnet hatten" (131). An anderer Stelle betont er, dass die Revolte "im Zeichen der Revolution [...] zum Fortschritt der Reformen" beitrug (138). Dabei versäumt er aber, die Frage aufzuwerfen, ob nicht die "68er" den Reformprozess auch behindert haben könnten, da sie "Gegenreformern" in die Hände spielten. Mit Recht kritisiert Frei bei der Protestbewegung bei all ihrem Gerede von Emanzipation, Partizipation und Transparenz ihre mangelnde "Liebe zum Liberalismus" (216f.). Außerdem besaßen die "68er" - wie er ebenfalls richtig konstatiert - "ausgesprochen unterkomplexe Vorstellungen von der Funktionsweise moderner Gesellschaften und Volkswirtschaften" (218) - auch aus diesem Grund waren ihre Auffassungen von "Demokratisierung" äußerst problematisch.

Gleichwohl dominieren bis heute positive Einschätzungen über die "68er" und ihre inhaltlichen Vorstellungen. Dies ist sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass zahlreiche Träger der Revolte einen erfolgreichen "Marsch durch die Institutionen" angetreten haben und bis heute eine weitgehende Deutungshoheit über die eigene Geschichte verteidigen. So schätzen das auch Norbert Frei (210f.) und Albrecht von Lucke ein, der insbesondere für die Jahre der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder eine "kulturelle Hegemonie" der "68er" als gegeben sieht (43). Aber allmählich treten die ehemaligen Revoltierer in den Ruhestand und verlieren ihren Einfluss. Die geschichtswissenschaftliche Forschung wird heute vorherrschende Deutungsmuster hinterfragen und korrigieren. Der Streit darüber, ob "1968" als Beginn des politisch-kulturellen Niedergangs, als das Jahr des einsetzenden Werteverfalls oder als Aufbruch in eine wirkliche Demokratie und eine moderne Gesellschaft gedeutet werden muss, wird an Schärfe verlieren. Die Geschichtsschreibung wird die Grautöne herausarbeiten und "1968" in vielerlei Hinsicht relativieren. "1968" - das zeigen bereits eine ganze Reihe einschlägiger Forschungsarbeiten - hatte bereits lange vorher begonnen und die Wirkungen der in diesen Jahren einsetzenden Reformprozesse waren durchaus ambivalent. 50 Jahre nach "1968" wird die öffentliche Diskussion über diesen Komplex auf einer anderen Grundlage mit anderen Argumenten geführt werden.

Udo Wengst