Ivan T. Berend: Markt und Wirtschaft. Ökonomische Ordnungen und wirtschaftliche Entwicklung in Europa seit dem 18. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Rolf Schubert (= Synthesen. Probleme europäischer Geschichte; Bd. 4), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 238 S., 13 Tab., ISBN 978-3-525-36805-3, EUR 29,90
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Anzuzeigen ist ein Lehrbuch über den Zusammenhang zwischen dem Wandel der "ökonomischen Ordnungen" und der wirtschaftlichen Entwicklung Europas seit dem 18. Jahrhundert, verfasst von Ivan T. Berend, einem an der University of California lehrenden ungarischen Wirtschaftshistoriker. Entsprechend der Struktur der Lehrbuchreihe, die problemorientierte Einführungen in zentrale Fragen der neueren europäischen Geschichte bieten will, gibt zunächst die Einführung (9-31) sowohl einen kursorischen Überblick über die Dogmengeschichte der Wirtschaftswissenschaft als auch über die generellen Linien der Wirtschaftspolitik im Betrachtungszeitraum. Ihr folgt die "Chronologische und systematische Darstellung", die bei weitem den Hauptteil des Buches (31-207) ausmacht und in sechs Abschnitte aufgeteilt ist. Die einzelnen Abschnitte thematisieren dabei den "selbstregulativen Markt im 19. Jahrhundert und seine Gegner" (31-44), den "Niedergang des Laissez-Faire-Systems und den Aufstieg des regulativen Marktsystems" bis Mitte des 20. Jahrhunderts (44-73) als auch den "Wirtschaftsdirigismus in autoritär-faschistischen Herrschaftssystemen" in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts (73-114). Weiter werden auch die "Zentrale Planwirtschaft" in der Sowjetunion ab 1917 und den anderen kommunistisch beherrschten Staaten ab 1945 (114-157) sowie das Aufkommen der "Mischwirtschaft" und des Wohlfahrtsstaates als auch die Vereinigung des europäischen Wirtschaftraumes (157-198) in den Blick genommen. Abschließend wird auch die Entstehung der globalen Märkte (198-207) kurz angerissen. Anschließend an den Hauptteil skizziert Berend auf wenigen Seiten die "Grundlinien der Forschung" (207-217) bzw. präsentiert eine "Bibliographie raisonée" (217-233).
Das sehr ambitionierte Vorhaben Berends, die Entwicklung der verschiedenen Formen von Marktökonomien auf nur 224 Seiten abzuhandeln, kann im Ergebnis allerdings nicht als geglückt bezeichnet werden. Dabei ist weniger von Bedeutung, dass der Autor trotz des Untertitels auf das 18. Jahrhundert überhaupt nicht eingeht. Von größerem Gewicht ist hingegen, dass auch der Entwicklung des gesamten 19. Jahrhunderts gerade einmal 13 Seiten gewidmet werden, während allein die Darstellung der britischen Kriegswirtschaftsordnung im Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammen fünf Seiten umfasst, was doch als unausgewogen erscheint, auch wenn man wie Berend der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs einen bedeutenden Einfluss auf die weiteren Wirtschaftskonzepte im 20. Jahrhundert zuweist. Daher muss festgestellt werden, dass der Betrachtungszeitraum des vorliegenden Bandes sich auf das 20. Jahrhunderts konzentriert - ehrlicherweise beschränkt sich denn auch das dem deutschen Band zugrunde liegende, deutlich längere englische Original nur auf das 20. Jahrhundert. [1]
Wirklich ärgerlich an der zu kurzen Darstellung des 19. Jahrhunderts ist jedoch, dass Berend sich hier auf die Entwicklung des Weltmarktes und des Freihandels sowie den ökonomischen Erfolg bzw. Misserfolg der einzelnen Länder beschränkt, d.h. auf die Ausgestaltung der einzelnen Wirtschaftsordnungen in den verschiedenen Ländern gar nicht eingeht. Es finden sich daher keinerlei Hinweise auf z.B. die unterschiedliche Ausgestaltung der Eigentumsordnung in den verschiedenen Ländern bzw. deren großer Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung oder die langsame Durchsetzung der Gewerbefreiheit selbst in den weiter entwickelten Staaten wie Deutschland. Stattdessen dominiert vom 19. Jahrhundert das sehr holzschnittartige Bild der damaligen Marktwirtschaften als "Laissez-Faire-Systeme". Selbst in der Blütezeit des Liberalismus entsprachen die einzelnen europäischen Volkswirtschaften ja keineswegs dem Modell einer vollständigen Marktwirtschaft, was allein der Verweis auf die große unternehmerische Kontinuität des preußischen Fiskus, aber auch zahlreiche Interventionen in die Wirtschaft durch den britischen Staat (Enteignungen für den Eisenbahnbau, Enclosures, Außenhandel) deutlich macht. [2] Die Nichtbeachtung der unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen mag allerdings auf ein Übersetzungsproblem zurückzuführen sein sowie darauf, dass wichtige Begrifflichkeiten unscharf bleiben. So wird denn wegen einer fehlenden Definition nicht klar, was Berend unter "marktwirtschaftlichen Ökonomien" versteht. Aufgrund des Schwerpunkts seiner Ausführungen zur Wirtschaftspolitik und zur Entwicklung der einzelnen Volkswirtschaften ist zu vermuten, dass Berend die Entwicklung verschiedener Wirtschaftssysteme darstellt - was auch der Titel des englischen Pendants (Economic Regime) nahelegt -, nicht aber die Entwicklung der Wirtschafts- oder einzelner Marktordnungen, d.h. der institutionellen Rahmenbedingungen, was der deutsche Untertitel "Ökonomische Ordnungen" suggeriert, dem im Englischen eher der Begriff "Economic Order" entsprechen würde.
Erheblich ausführlicher als dem liberalen 19. Jahrhundert widmet sich Berend jedoch dem Wandel der Wirtschaftsordnungen im 20. Jahrhundert. Leitmotiv seiner Ausführungen ist neben der Identifikation einzelner Wirtschaftssysteme (regulative Marktsysteme, Wirtschaftsdirigismus, Zentrale Planwirtschaft, Wohlfahrtstaat) hier vor allem die Frage, wie rückständig einzelne Staaten im Vergleich waren und ob die jeweils eingeschlagene interventionistische Wirtschaftpolitik der verschiedenen Länder und Regierungen erfolgreich war. Das Gerschenkron-Rückständigkeitsparadigma (Vorbedingungen und Triebkräfte der britischen Industrialisierung werden von Nachahmerstaaten durch unterschiedliche institutionelle Arrangements substituiert) weiterdenkend, befürwortet Berend implizit die zahlreichen Versuche, die Wirtschaft mittels einer staatlichen Wirtschaftspolitik (Protektionismus, Investitionsprogramme, Umlenkung finanzieller Mittel mittels Zwangssparen etc.) zu modernisieren; bis hin zur teilweisen Akzeptanz der sowjetischen Wirtschaftspolitik nach 1926: "Die zentrale Planwirtschaft war zugeschnitten auf das vorindustrielle bäuerliche Russland und eignete sich für eine rasche Industrialisierung gering entwickelter Länder." Nicht nur, dass der Autor hierbei neuere Forschungen zur Industrialisierung Russlands nicht wahrnimmt, die das selbsttragende Wachstum der zaristischen Wirtschaft vor 1914 betonen und die die Verzögerung der erst 1929 einsetzenden Aufholjagd im Wesentlichen auf Welt- und Bürgerkrieg sowie fehlgeschlagene kommunistische Experimente zurückführen, nicht aber auf die vor dem Ersten Weltkrieg im Land herrschenden marktwirtschaftlichen Verhältnisse. [3] Auch übersieht Berend, dass es gerade die politischen Wirren und der Rückgang der weltwirtschaftlichen Handelsverflechtungen waren, die trotz der staatlichen Maßnahmen die wirtschaftliche Weiterentwicklung der "rückständigen" Länder viel stärker negativ beeinflussten als der weitgehend freie Weltmarkt vor 1914. Daher ist es wenig überraschend, dass er die Tatsache, dass es in all diesen Ländern nicht zu einem Aufholprozess der verschiedenen süd- und osteuropäischen Länder bis zu ihrer marktwirtschaftlichen Öffnung nach 1989 gekommen ist, letztlich mit seinem Ansatz nicht erklären kann und sich in der Darstellung zahlreiche Widersprüche finden.
Kann man sich über den speziellen Ansatz Berends noch streiten, sind jedoch andere Mängel des Buches vollends unerfreulich. Neben sachlichen Fehlern (Entstehung der deutschen Arbeitsfront 1934 statt 1933, (92), Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Regierung Brüning, (88) und falschen Beurteilungen (die Hitlerjugend wird unter dem Abschnitt "sozialstaatliche Maßnahmen" aufgeführt, (104)) für den deutschen Fall, den der Rezensent im einzelnen besser beurteilen kann als die Ausführungen über die anderen Länder, sind hier vor allem Übersetzungsfehler zu nennen. So wird aus dem Anleihestockgesetz von 1934, das die innerdeutschen Dividendenausschüttungen der deutschen Kapitalgesellschaft auf 6% beschränkte, ein Gesetz zur Begrenzung der "Devisenausschüttung" (94).
Hinzu treten die Nennung falscher Namen wie Wilward statt Alan Milward (208 und 219), um nur ein Beispiel zu erwähnen. Schließlich ist auch zu erwähnen, dass Berends Ausführungen im Wesentlichen auf der älteren Literatur beruhen. So greift er beispielsweise für die Darstellung und Bewertung der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik auf eine weitgehend unbekannte zeitgenössische amerikanische Untersuchung des Jahres 1936 zurück (95). [4]
Auch wegen diesen und anderen einzelnen Fehlern, mehr noch jedoch aufgrund der oben genannten konzeptionellen Schwächen bleibt daher schließlich leider nur zu konstatieren, dass das vorliegende Lehrbuch Studenten besser nicht zur Lektüre empfohlen werden sollte.
Anmerkungen:
[1] Ivan T. Berend: An Economic History of Twentieth-Century Europe: Economic Regimes from Laissez-Faire to Globalization. Cambridge 2006.
[2] Ron Harris: Government and the economy. In: Roderick Floud / Paul Johnson (eds.): The Cambridge Economic History of Modern Britain. Vol.I: Industrialisization, 1700-1860. Cambridge 42008, 204-237.
[3] Roger Munting: Industrial Revolution in Russia. In: Mikulάs Teich / Roy Porter (eds.): The Industrial Revolution in national context. Europe and the USA. Cambridge 1996, 329-349.
[4] M. Florinsky: Facism and National Socialism. A Study of the Economic and Social Policies of Totalitarian States. New York 1936.
Ralf Banken