Ulrike Müßig: Die europäische Verfassungsdiskussion des 18. Jahrhunderts, Tübingen: Mohr Siebeck 2008, IX + 167 S., ISBN 978-3-16-149796-4, EUR 44,00
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Auch wenn es auf den ersten Blick sicherlich überrascht, sind Publikationen zur Verfassungsgeschichte und Verfassungstheorie des 18. Jahrhunderts nicht allzu zahlreich, was die Tatsache erklärt, dass noch heute häufig der Rückgriff auf ältere Werke der Forschung gesucht wird. Allerdings hat sich in den letzten Jahren die Aufarbeitung der Thematik intensiviert, wofür vor allem die historischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen verantwortlich sind. Ulrike Müßig ist mit ihrer Publikation nun ebenfalls dieses Defizit angegangen, wobei sie dem Anspruch nach aber keine eigene Forschung betreibt, sondern vielmehr ein Studien- bzw. Einführungsbuch verfasst. Ihr geht es in der knapp gehaltenen Darstellung vor allem um das Aufzeigen der größeren Entwicklungstendenzen und ideengeschichtlich messbaren Rezeptionsmuster sowie darüber hinaus um die Vernetzung der einzelnen Ebenen des verfassungstheoretischen Diskurses. Um dies zu erreichen, gliedert Müßig ihre Arbeit in fünf Hauptkapitel, die wir in der Folge kurz Revue passieren lassen.
Die ersten vier Kapitel untersuchen die Verfassungstheorie in England (11-22), Amerika (23-31), Frankreich (32-54) und Deutschland (55-77). Bei der Betrachtung der englischen Verfassungsdiskussion betrachtet Müßig John Lockes Legitimierung der Englischen Revolution ebenso wie Edmund Burkes Kritik der Französischen Revolution. Es war also der kontraktualistische Denkansatz, der ganz zentral für die Ausprägung der verfassungsbildenden Normen zuständig war. Zu erkennen ist ebenfalls, dass sich die Vertragstheorie gleichsam in einen konservativen und einen progressiven Flügel aufspaltet. Für die erste Entwicklung steht sicherlich Burkes radikale und polemische Revolutionskritik, für die zweite die Positivierung der Revolution durch Thomas Paine in der amerikanischen Unabhängigkeitsentwicklung sowie in der Französischen Revolution (wobei natürlich gerade seine Debatte mit Burke zu berücksichtigen ist). Aber auch Jean-Jacques Rousseaus kontraktualistisches Modell, welches zahlreiche Theorie- und Praxismuster ab 1789 stimulierte (hier reicht die Bandbreite von Sieyès über Condorcet bis zu Robespierre), und die protestantisch-hugenottische Tradition (Burlamaqui und andere), die gerade in Deutschland Beachtung fand, wären zu erwähnen. Insgesamt wird deutlich, dass die einzelnen Ansätze derart stark miteinander verwoben und aufeinander bezogen sind, dass eine Strukturierung der Verfassungstheorie des 18. Jahrhunderts nach Ländern nur den Charakter eines methodischen Hilfskonstruktes haben kann.
Das fünfte Hauptkapitel (78-125) zeigt dann auf, welche Elemente der Verfassungstheorie in den europäischen Frühkonstitutionalismus eingingen, modifiziert und, oder aktualisiert wurden. Dabei spannt Müßig einen Bogen, der bis zu den Revolutionen und Verfassungsdiskussionen der 1830er-1831er Jahre reicht. Zahlreiche Argumente der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden bürgerlichen Opposition, so Müßigs abschließende These, lassen sich auf Versatzstücke der Theoriemuster der gemäßigten Aufklärung zurückführen. (124f.)
Kritisch ist sicherlich anzumerken, dass das Buch nicht hält, was der Titel verspricht. Denn nur knapp die Hälfte des Textes beschäftigt sich mit dem 18. Jahrhundert, das weitaus umfangreichste Kapitel thematisiert den europäischen Frühkonstitutionalismus des 19. Jahrhunderts. Hinzu tritt, dies ist sicherlich ein Problem vieler Überblickswerke, dass einzelne Theoretiker und Autoren fehlen oder etwa ohne Begründung marginalisiert werden. So wird das "naturrechtliche Programm der Encyclopädisten" (39f.) ausschließlich anhand des Artikels "Politische Autorität" von Denis Diderot rekonstruiert. Nun ist es allerdings in der Forschungsliteratur durchaus umstritten, ob der Artikel wirklich von Diderot stammt, inwieweit ein Artikel von 1751 maßgeblich für einen Forschungs- und Denkprozess sein kann, der sich über knapp fünfzehn Jahre hinzog, und ob überhaupt von "den Encyclopädisten" gesprochen werden kann: Immerhin vereinigte dieses bedeutende Projekt der Französischen Aufklärung knapp 200 Autoren, die unterschiedlicher nicht sein können - Geistliche arbeiteten ebenso mit wie Adlige, gemäßigte oder radikale Aufklärer, Regierungsbeamte und ehemalige Gefängnisinsassen.
Dieses hier etwas näher beleuchtete Beispiel lässt sich durch weitere ergänzen. So behauptet Müßig zum Beispiel, dass mit dem 6. Artikel des Friedensvertrages von Utrecht die "checks und balances über Montesquieus literarische Vermittlung die Bühne der europäischen Verfassungsdiskussion betreten" (16). 1713, als der Utrechter Frieden geschlossen wurde, hatte Montesquieu sein Jurastudium gerade beendet und stand kurz vor seiner Ernennung zum Parlamentsrat. Geschrieben und publiziert hatte er noch kaum etwas. An anderer Stelle (5) wird dann ausgeführt, dass die deutsche Montesquieu-Rezeption vor allem über Justi erfolgte, was die Tatsache außer Acht lässt, dass Montesquieu in erster Hinsicht als Historiker und Romancier wahrgenommen wurde, die Verbreitung seines politiktheoretischen Hauptwerkes in Deutschland erst spät und zeitlich verzögert erfolgte (in den 1770er Jahren). Nicht zuletzt, da sich in Deutschland eine eigene kontraktualistische Theorie herausgebildet hatte, die vor allem dadurch zu kennzeichnen ist, dass sie zwar ein Widerstandsrecht kennt, Revolutionen und Umbrüche aber gerade zu vermeiden trachtet. Möglich werden Fehlurteile dieser Art, weil in Müßigs Arbeit teilweise die einschlägige Forschungsliteratur fehlt, die aber, gerade für das 18. Jahrhundert, sehr wohl nützlich und wichtig ist, da sie dem Wissenschaftler Kriterien der Ordnung, Strukturierung und Orientierung zu geben vermag.
Müßigs Publikation liegt der Versuch zu Grunde, beim Schließen einer wichtigen Forschungslücke zu helfen. Das ist ihr teilweise auch gelungen, andererseits ist aber nicht zu leugnen, dass ihre Arbeit in einzelnen Teilen der Expertenkritik nur schwer standhält. In letzter Konsequenz ist festzustellen, dass die kleinen Fehler und Auslassungen den Charakter des Werkes so determinieren, dass dieses nur unter Vorbehalt als Studienbuch geeignet ist. Hinzu tritt, dass es leider den Stand der hiesigen Forschung nur bedingt wiedergibt und daher hinter diesen zurückfällt.
Andreas Heyer