Steffen Diefenbach: Römische Erinnerungsräume. Heiligenmemoria und kollektive Identitäten im Rom des 3. bis 5. Jahrhunderts n. Chr. (= Bd. 11), Berlin: De Gruyter 2007, XI + 635 S., ISBN 978-3-11-019129-5, EUR 88,00
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Ohne Zweifel stellt Steffen Diefenbachs Monographie einen der wichtigsten Beiträge zur Erforschung der Spätantike der letzten Jahre dar. Umso schwerer ist es, diesem überaus komplexen, sowohl in vielfältigen Detailproblemen als auch in den großen Leitfragen substanzielle Ergebnisse hervorbringenden Buch in wenigen Zeilen gerecht zu werden. Der Autor versucht "ausgehend vom Heiligenkult, der das räumliche Erscheinungsbild des spätantiken Rom zunehmend bestimmte [...], anhand der Erinnerung an die Heiligen identitätsrelevante Wandlungsprozesse im städtischen Kontext deutlich zu machen". Es geht ihm um die Frage, "inwieweit die stadtrömische Heiligenerinnerung zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert als monumentaler und räumlicher Kristallisationspunkt für die Konstruktion kollektiver Identitäten fungierte, und welche Veränderungen sich in diesem Zeitraum vollzogen" (1). Damit nicht genug: In einer abschließenden Zusammenfassung bündelt der Autor seine Resultate und entwickelt sie vor dem Hintergrund des übergreifenden Diskussionshorizonts um das Ende der antiken Stadt weiter. Dabei wird deutlich, in welch drastischer Weise der christliche Heiligenkult - von Diefenbach strukturell als besondere, vom paganen Euergetismus zu unterscheidende Variante des Gabentausches verstanden - mit zu tief greifenden Transformationsprozessen beigetragen hat, mithin für die Zäsur zwischen der antiken und der mittelalterlichen Stadt mitverantwortlich war.
Im Einzelnen: Methodisch bewegt der Autor sich, wie er selbst in der Einleitung (Kap. I) darlegt, im Grenzbereich zwischen kulturwissenschaftlicher (Assmann) und mediävistischer (Oexle, Borgolte) Erinnerungsforschung, zwei Paradigmata, die er beide als defizitär charakterisiert, die ihm aber doch auch eine hinreichende theoretische Basis für seine eigenen Studien verschaffen. In Verbindung und Weiterentwicklung beider Ansätze möchte Diefenbach anhand der Untersuchung des Totengedenkens (und insbesondere der Sonderform des Heiligengedenkens) im spätantiken Rom spezifische Formen der Memoria in einer spätantiken Stadt herausarbeiten und von diesen auf den Zusammenhang von kollektiver Erinnerung und Identitätsstiftung schließen. Die Arbeitshypothese - die dann in den folgenden Kapiteln auch verifiziert wird - lautet, "dass die Krise der spätantiken Stadt zu einem nicht unerheblichen Teil das Ergebnis einer veränderten Auffassung von Memoria als sozialer Gabe war - ein Strukturwandel, der nicht ohne Auswirkungen auf den Erinnerungsraum der antiken Stadtkultur blieb" (23).
Das zweite Kapitel ist insbesondere der so genannten Triklia an der via Appia unter der Basilika von S. Sebastiano gewidmet. Archäologische Beobachtungen, begriffsgeschichtliche Studien (refrigerium, pax, caritas), eine Untersuchung der Kommunikations- und Handlungsbeziehungen zwischen Mitgliedern christlicher Gemeinden in der Verfolgungszeit und ihrer bereits verurteilten martyres designati, ferner ein instruktiver Vergleich zwischen paganen und christlichen Totenmählern führen den Autor zu dem Ergebnis, dass im christlichen Kontext (anders als im paganen Bereich) Tote und Lebende miteinander durch Handlungszusammenhänge verbunden blieben; die Lebenden beteten (insbesondere bei den gemeinsamen Mählern) für die Toten (was diese - zumal die Märtyrer - von ihnen auch verlangt hatten), während sie in den Märtyrern bereits die göttliche Gnade wirken sahen. Derartige, auf "gegenseitiger Verdemütigung" (71) beruhende Kommunikationsbeziehungen seien charakteristisch für den "grenzüberschreitenden Handlungszusammenhang" (63) in der christlichen Vorstellungswelt, der allerdings durch die zunehmende Aufwertung der Heiligen und des Heiligengedenkens schließlich zu einem Übergewicht letzterer geführt habe, so dass diese allmählich aus dem Diesseits und Jenseits verbindenden reziproken Zusammenhang herausgetreten seien und sich zu einseitigen Empfängern von vota entwickelt hätten; die Folge sei "eine zunehmende Distanzierung und Entrückung der heiligen Interzessoren aus menschlichen Handlungszusammenhängen" (79) gewesen, was zu einer Schwächung der innerweltlichen Sozialbeziehungen (insbesondere vor dem Hintergrund neuer, nicht mehr an die Gemeindedisziplin gebundener Bußmöglichkeiten) geführt habe.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit Aspekten der Politik und Repräsentation Konstantins I., die im Kontext der Leitfragen des Autors von Relevanz sind, und gelangt dabei zu grundlegenden Einsichten. Die in der Forschung immer wieder erörterte Tatsache, dass Konstantin sich mit christlichen Bauten im Stadtzentrum Roms auffällig zurückhielt und stattdessen auf das Suburbium konzentrierte, möchte der Autor weder auf eine besondere Rücksichtnahme gegenüber den Altgläubigen noch auf eine vom Kaiser angeblich praktizierte Untergliederung 'öffentlicher' Repräsentationsbauten (im Zentrum) und 'privater', christlicher Komplexe (am Stadtrand) zurückführen, sondern erklärt sie plausibel mit einer Repräsentationspraxis, die sich an unterschiedliche Zielgruppen gerichtet habe: Während sich Konstantin im Stadtzentrum als Befreier Roms vom tyrannus Maxentius inszeniert und dabei insbesondere Senat und Volk angesprochen habe (die Christen hätten dabei schlichtweg keine Rolle gespielt), habe er an der via Labicana einen basilikalen Komplex errichtet, der zwar mit Heiligengräbern in Zusammenhang stand, aber wohl nicht durch diese motiviert wurde, etwa in dem Sinne, dass der Kaiser vom Heiligenkult habe profitieren wollen; es sei ihm vielmehr darum gegangen, eine eigene Grablege als monumentalen Kaiserkultkomplex zu entwerfen, bei dem das Märtyrergedenken als integratives Element (Diefenbach verwendet hier den m.E. nicht sonderlich glücklichen Ausdruck "kulturelles Modell") für Christen und Heiden fungieren sollte: "Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Konstantin [...] die [...] Struktur der Märtyrerverehrung aufgriff und auf den toten Kaiser übertrug: Der in seinem Mausoleum mit einem eigenen altare ausgestattete Kaiser erstrebte keine depositio ad sanctos und auch kein liturgisches Gedenken, das ihn der Fürbitte eines Märtyrers anempfahl. Er wollte selbst verehrt werden wie ein Heiliger" (207). Dieser - für Rom überraschende - Befund deckt sich mit den aktuellen Interpretationen der konstantinischen Grablege in Konstantinopel, die ebenfalls auf umfassende Ansprüche des Kaisers verweisen (vgl. 211f.). Dies war aber keineswegs ausschließlich Resultat der Christianisierung, wie der Autor im Rückgriff auf Thesen seines Lehrers Jochen Martin darlegt, sondern eine Entwicklung, die sich bereits vor Konstantin vollzogen hatte: Schon Maxentius hatte auf die Zuerkennung göttlicher Ehren durch den Senat verzichtet und stattdessen seine Göttlichkeit als Eigenschaft hervorgehoben (198); dies wiederum steht im Zusammenhang übergreifender Verschiebungen, die im 3. Jahrhundert darauf hinausliefen, dass Macht zunehmend außerweltlich begründet wurde. Konstantin hat mit der Lösung der Göttlichkeit des Kaisers vom Vorgang der Konsekration daran angeschlossen (199). Die Christianisierung des Kaisertums wird vor diesem Hintergrund in ihrer Bedeutung relativiert. Dem christlichen Märtyrergedenken hingegen kommt eine entscheidende Rolle beim Übergang vom traditionellen zum christlichen Kaisertum zu.
Das vierte Kapitel fragt insbesondere nach der Rolle der Heiligentopographie Roms für die Legitimation einzelner christlicher Gruppen sowie von Ansprüchen bestimmter Personen - erörtert am Beispiel von Schismen und häretischen Gruppierungen. Generell zeigt sich, dass die Coemeterial- und Heiligentopographie im Suburbium im 4. Jahrhundert eher eine marginale Rolle spielte, da die Bischöfe ihre Legitimation vorwiegend aus ihrer Rolle als Hirt der Gemeinde bezogen, und dies ließ sich nur innerhalb der Mauern glaubhaft vermitteln. Auch schismatische Gruppen hatten es schwer, sich auf die Heiligengräber vor der Stadt zu beziehen; dass etwa die Donatisten sich auf das Suburbium Roms konzentrierten, war Diefenbach zufolge weniger Ergebnis einer gezielten Strategie als eines Verdrängungsprozesses aus der Stadt heraus (288). Erst unter Damasus wurde das Suburbium Teil einer übergreifenden Stadtkonzeption, die die Bereiche intra und extra muros umfasste (307). Indem er die Märtyrer symbolisch in die Stadt hineinholte, gelang es ihm als erstem, sie funktional im Sinne besonderer Legitimationsstrategien nutzbar zu machen.
Dies führt zur Frage nach dem Charakter der sakralen Topographie des christlichen Rom, die im Hintergrund des fünften Kapitels steht: Diefenbach kann zeigen, dass etwa die Hälfte der römischen Titelkirchen bereits im 5. Jahrhundert mit einem Heiligenpatrozinium ausgestattet waren; bei mehreren Heiligen sei die Übertragung bereits im frühen 5. Jahrhundert erfolgt. Eingehende Untersuchungen im Anschluss an dieses Ergebnis zeigen, dass dabei der römischen Oberschicht eine entscheidende Rolle zukam: Offenkundig wirkten Reliquientranslationen statuskonstituierend im Prozess der Ausformung einer christlichen Elite; hier konnten insbesondere amicitia-Beziehungen hergestellt werden. "Der Heiligenkult schuf Vernetzungen und Verbindungen, die im Stil traditioneller aristokratischer Freundschaftsbeziehungen gepflegt und aufrechterhalten wurden" (378). Demgegenüber blieb die Heiligenverehrung in der aristokratischen domus, obwohl diese durchaus als Repräsentationsforum der Oberschicht diente, eher auf 'private', individuelle Frömmigkeitspraktiken beschränkt, wie auch bewusst vermieden wurde, zu Lebzeiten von Stiftern Kirchen in aristokratischen domus zu errichten, um spätere Ansprüche und Kontrollmöglichkeiten auszuschließen (400). Dies passt zu der Beobachtung, dass man sich in Rom bemühte, Heiligenverehrung generell nur im Rahmen kirchlicher Hierarchien und Kontrollinstanzen zu ermöglichen. Der vom Autor gezogene Vergleich mit Konstantinopel ist dabei aufschlussreich: Anders als in der Stadt am Bosporus, wo (bis 451) insbesondere Heiligenschreine und Oratorien als Kristallisationspunkte für asketische Gemeinschaften gewirkt hätten und wo Mönchsgruppierungen durch spezifische patronale Beziehungen vielfach einsetzbar waren, sind in Rom keine Martyrien und Heiligenschreine archäologisch nachweisbar, ebenso fehlt ein den Verhältnissen in Konstantinopel ähnelndes städtisches Mönchtum, und Askese blieb auf die aristokratischen domus zentriert. Die römische Kirche bemühte sich darum, entsprechende Phänomene selbst unter Kontrolle zu halten.
Das sechste Kapitel verfolgt den Zerfall des städtischen Raums in einzelne Zentren im 5. Jahrhundert. Während sich aufgrund des starken Bevölkerungsrückgangs immer mehr unbesiedelte Flächen im Stadtgebiet auftaten, kam es auch im Bereich der Sakraltopographie zu einer "Nuklearisierung". Anders als in Konstantinopel wurde dieser sich etablierende polyzentrische Charakter bewusst gepflegt (erkennbar in der Stationsliturgie). Prozessionen symbolisierten in Rom dementsprechend nicht die Einheit der Stadt, sondern ihre Fragmentierung, was Diefenbach darauf zurückführt, dass Rom nicht mehr als Kaiserresidenz fungierte, städtische und gemeindliche Identität mithin unterschiedliche Bezugssysteme bildeten, die auch räumlich voneinander getrennt blieben. Die im 'Laurentianischen Schisma' schließlich erzwungene Konzentration des Symmachus auf den Vatikan und die dort von ihm initiierten Ausbaumaßnahmen hätten langfristig die räumliche Bindung des Papstes als Bischof von Rom an Petrus eingeleitet und die heute noch existente Struktur präfiguriert.
Im siebten Kapitel schließlich erfolgt die Übertragung der Ergebnisse auf den übergreifenden Diskussionshorizont über das Ende der antiken Stadt: Sämtliche Kapitel hätten, so Diefenbach, aufgezeigt, wie sich anhand der Untersuchung des Heiligengedenkens eine allmähliche Auflösung innerweltlicher Kommunikations- und Handlungszusammenhänge zugunsten der Berufung auf außerweltliche Mächte vollzogen hätte. Dies hänge mit einer grundlegenden Differenz zwischen dem antiken Euergetismus und dem christlichen Toten- bzw. Heiligengedenken zusammen, die - beide als spezifische Formen des Gabentausches aufgefasst - sich insbesondere durch den strikten Bezug auf Gott im christlichen Bereich voneinander unterschieden. Das gegenüber der traditionellen Praxis ganz anders gelagerte christliche System habe dabei den antiken Euergetismus als wesentliches Konstituens der Stadtkultur gleichsam ausgehebelt und damit einen entscheidenden Transformationsfaktor ausgemacht.
Über diese starke These wird in den nächsten Jahren noch zu diskutieren sein. Sollte sie sich mit noch weiteren Argumenten untermauern und insbesondere auch an außerrömischen Beispielen verifizieren lassen, wäre damit ein gewichtiges Kriterium gewonnen, an dem zentrale Transformationsprozesse zwischen Antike und Mittelalter festgemacht werden könnten.
Mischa Meier