Tim Blanning / Hagen Schulze (eds.): Unity and Diversity in European Culture c. 1800 (= Proceedings of the British Academy; 134), Oxford: Oxford University Press 2006, viii + 213 S., ISBN 978-0-17-726382-8, GBP 27,50
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Die Auffassung, dass um 1800 der Kosmopolitismus der Aufklärung den Nationalismen des neuen Jahrhunderts gewichen sei, gehört gewissermaßen zum Handbuchwissen über die Übergangszeit vom Ancien Régime zur bürgerlichen Gesellschaft. Der vorliegende Band gibt die Beiträge einer von britischen, irischen und deutschen Wissenschaftlern veranstalteten Tagung wieder, die ihr Thema explizit an dieser These ausrichtete und thematisch einschränkend danach fragen wollte, wie sich "the transition from the cosmopolitan culture of the Enlightenment to the self-consciously national cultures of the nineteenth century" vollzog (1).
Interessante Hinweise auf die Differenzen heutiger "nationaler" Wissenschaftskulturen und ihren jeweiligen Zugang zu diesen Themen geben die Herausgeber in ihrer kurzen Einleitung. Sie berichten von deutlichen Gegensätzen bei der Einschätzung des sich um 1800 herausbildenden Nationalismus. Während vor allem die deutschen Teilnehmer darauf bestanden hätten, nicht nur das Konstruierte ("fictive, artificial nature") nationaler Identitäten und Loyalitäten, sondern auch deren Neuartigkeit um 1800 zu betonen, hätten die anderen Diskutanten - "coming from polities with a less guilt-ridden past" (3) - die gewachsene Geschichtlichkeit von Nationalismen akzeptieren können. Diese Differenz zeigt sich dann auch in den unterschiedlichen Aufsätzen, die sich darüber hinaus drei Themenkomplexen zuweisen lassen: den Künsten, der politischen Kultur sowie Literatur und Sprache.
Die Frage danach, wie sich Nationalismus als kulturelles Phänomen konstituiert, beschäftigt vor allem die ersten drei Beiträge, die sich mit den bildenden Künsten und der Musik nonverbalen Ausdrucksformen zuwenden. Um 1800 wurden Forderungen nach einer deutschen Oper und ebenso nach deutscher Musik erhoben. Die Frage jedoch, wie diese aussehen sollte, war und blieb umstritten. Einer deutschen Nationaloper kam Ignaz Holzbauers "Günther von Schwarzburg" am nächsten, allerdings nicht, wie Silke Leopold herausstellt, wegen einer spezifisch "deutschen" Musik, sondern wegen des Librettos von Anton Klein, einem Text also. Ähnliches gilt nach den Ausführungen John Deathridges für die deutsche Musik insgesamt. Musikschriftsteller versuchten zwar recht intensiv, eine deutsche Musik, ausgezeichnet durch eine besondere instrumentale Virtuosität, zu behaupten, kamen aber nicht umhin, den stets erkennbaren fremden Einfluss auf deutsche Komponisten zugestehen zu müssen, so dass der Ausweg in der Konstruktion bestand, die deutsche Tonkunst als Höhepunkt einer europäischen Entwicklung zu sehen. Bach wurde zu deren Verkörperung erkoren, seine Musik sei "national, and at the same time truly universal, music" (56). Diese Feststellung Deathridges korrespondiert mit dem bei vielen deutschen Autoren um 1800 zu beobachtenden Phänomen, die durchaus nationalistische Auffassung einer besonderen kulturellen Vorrangstellung der Deutschen kosmopolitisch abgefedert in einem deutschen Universalismus aufzuheben. Stärker an der Leitthese des ganzen Bandes orientiert sich James Sheehan, der eine "kosmopolitische Einheit" der europäischen Kunst nach 1800 verschwinden sieht, auch weil "kosmopolitische Gestalten" wie Tiepolo, Kaufmann, Tassaert u. a. kaum noch existierten (14). Allerdings stellt sich hier die grundsätzliche Frage nach der Bestimmung des Kosmopolitischen der Kunstepoche vor 1800. Ist das Fehlen nationaler Verengung oder gar nationalistischer Beschränkung gleichzusetzen mit Kosmopolitismus? Dies wäre eine sehr offene Bestimmung des Kosmopolitischen, die nur ex negativo gewonnen würde.
Mit Blick auf das Phänomen der Nation ist in den letzten gut 15 Jahren das Bild einer scharfen Zäsur um 1800, die eine vermeintlich nicht national zu verstehende Frühe Neuzeit vom folgenden national bzw. nationalistisch geprägten Jahrhundert absetzte, erschüttert worden. Fragen danach, wie die Konstruktionen des Nationalen um 1800 aussahen und welchen Veränderungen sie unterworfen waren, erfordern heute komplexere Analysen. So überzeugt zwar Peter Alters kategorisierender Befund zu Napoleons Auswirkungen auf die Nationalisierungsprozesse in nahezu allen von seiner Expansionspolitik berührten europäischen Ländern. Offen aber bleibt, in welchem Verhältnis diese vielfältigen Formen der politischen Nationalisierung zu älteren Nationsvorstellungen standen. Wahrscheinlich ging es dabei um mehr als um die Vereinnahmung von "older traditions of patriotic feelings and cultural identities" (67). Die Forschung ist hier deutlich weiter.
Schon Siegfried Weichlein zeichnet ein differenzierteres Bild. Er verweist auf die bedeutsame Rolle, die die Nation bereits in der gesamten frühneuzeitlichen deutschen Geschichte spielte, lässt aber keinen Zweifel daran, dass sie mit der Französischen Revolution als politisches Ordnungsmodell in eine neue Phase eintrat. Die Studie zu "Cosmopolitism, Patriotism, Nationalism" zeigt, wie sich nach dem Siebenjährigen Krieg zunächst zwei Typen des Patriotismus entfalteten, die sich jeweils auf die politische Ebene des Reichs oder aber jene der reichsständischen Territorien beziehen konnten. Damit war die Grundlage geschaffen, die in der Auseinandersetzung mit dem revolutionären und dann napoleonischen Frankreich und dem damit verbundenen Aufkommen eines zunehmend nationalistischen Denkens in Deutschland zu der sehr spezifischen Variante eines eindeutig nationalistisch konnotierten "moral universalism" führte, der in der Forschung als "deutscher Universalismus" schon recht gut beschrieben ist. Der allzu schnelle Durchgang durch diese alles andere als eindeutigen und linearen Transformationsprozesse politischen Denkens im Spannungsfeld von Patriotismus, Kosmopolitismus und Nationalismus um 1800 bis hin zu einem Ausblick auf das 19. Jahrhundert hinterlässt leider einen etwas zu glatten Eindruck, obwohl an den dargestellten Grundlinien kaum zu zweifeln ist.
Überaus interessant ist die kurze Abhandlung von Peter Mandler über die Kulturpolitik des britischen Staates zwischen 1780 und 1850. Er zeigt vor allem eine Art insularen "Sonderweg", denn anders als etwa die französische Monarchie und die Revolutionsregierungen oder auch die deutschen Reichsfürsten trat die Krone in Großbritannien als Patron für Wissenschaft und Künste kaum nennenswert und vor allem nicht dauerhaft in Erscheinung. Zwar stellt Mandler auch nationalistische Abschließungsbewegungen im Bereich der Künste fest, die etwa im späten 18. Jahrhundert zu einer Typisierung von "English arts" (wie Dichtkunst und Literatur) und "non-English arts" (wie Malerei und Musik) führte, doch im Großen und Ganzen wurde Kulturpolitik kaum als funktionales Integrationsmoment der Zentralregierung aufgefasst.
Otto Dann beschäftigt sich mit dem überaus wichtigen Zusammenhang zwischen der Nation und Nationalsprache, wobei er sich besonders auf den Aspekt der doppelten Konstruiertheit bezieht. Sein Befund ist evident: die in vielen Ländern Europas seit dem späten 18. Jahrhundert geführte Debatte darüber, was denn die eigene Nation überhaupt ausmache, lief bei den daran beteiligten Bildungseliten in weiten Teilen über die Frage nach der Sprachgemeinschaft als dem vornehmsten Ausdruck "nationaler" Zusammengehörigkeit. Dann diskutiert vor allem das deutsche Beispiel genauer, weil er hier Sprache versteht als "most important tie between Germans in a situation of great political crisis, where the nation of the German princes was breaking apart and the citizen nation still lacked political concepts" (129). Hinzufügen möchte man mit Blick auf nicht nur rein sprachpflegerische Bemühungen z. B. der Fruchtbringenden Gesellschaft im 17. Jahrhundert jedoch, dass die politische Wertschätzung der Sprache auch in Deutschland nicht erst Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte - und da auch nicht mit den zunächst literaturorientierten Debatten um Möser, Klopstock, Herder etc. Die Orientierung auf die Zäsur um 1800 kann den Blick auf die ältere Geschichte mancher Phänomene verstellen, auch wenn diese zweifelsohne um 1800 eine besonders markante Entwicklung durchliefen.
In einer profunden Übersicht über die Entwicklung der deutschen Geschichtsschreibung von der aufklärerischen Universalgeschichtsschreibung hin zu einer spezialisierten akademischen Geschichte im 19. Jahrhundert zeigt Hans Erich Bödeker, dass auch in der Historiographie eine nationale Zuspitzung erkennbar ist. Doch zeigt er ebenso, dass die deutsche Nationalgeschichtsschreibung nicht einfach die Universalgeschichte ersetzte, sondern in einem vielschichtigen Prozess aufgrund wissenschaftsimmanenter Entwicklungen und geänderter äußerer Bedingungen eine zeitadäquate Form fand, die zumindest programmatisch die universalhistorischen Zusammenhänge noch nicht aufgab.
Der abschließende Beitrag von Vincent Morley über die Repräsentation irischer Geschichte in der irischen volkssprachlichen Literatur zeigt mit einer Überschau von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, dass trotz des Einflusses gewichtiger politischer Ereignisse die Popularkultur keine besondere Transformationsphase um 1800 erkennen lässt, sondern eher von einer evolutionären Mischung traditionaler und innovativer Elemente gekennzeichnet war.
Insgesamt zeigt der Band, dass sich die Grundannahmen über den Charakter des Epochenwechsels um 1800 bei einer immer genaueren Untersuchung kaum auf allzu einfache Aussagen über den Wandel vom "kosmopolitischen" 18. zum "national(istisch)en" 19. Jahrhundert reduzieren lassen - auch, oder vielleicht gerade nicht mit Blick auf kulturelle Phänomene. Antworten auf die gerade in der deutschen Historiographie sehr präsente Frage nach der tatsächlichen Tiefe und Bedeutung des Wandels "um 1800" können, so zeigen einige Ansätze in diesem Band, durch den europäischen Vergleich nur an analytischer Genauigkeit gewinnen.
Andreas Klinger