Wladislaw Hedeler / Meinhard Stark: Das Grab in der Steppe. Leben im Gulag. Die Geschichte eines sowjetischen "Besserungsarbeitslagers" 1930-1959, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008, 465 S., ISBN 978-3-506-76376-1, EUR 38,00
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Wladislaw Hedeler (Hg.): KARLag. Das Karagandinsker "Besserungsarbeitslager" 1930-1959. Dokumente zur Geschichte des Lagers, seiner Häftlinge und Bewacher, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008, 365 S., ISBN 978-3-506-76377-8, EUR 39,90
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Wladislaw Hedeler / Horst Hennig (Hgg.): Schwarze Pyramiden, rote Sklaven. Der Streik in Workuta im Sommer 1953. Eine dokumentierte Chronik, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2007
Wladislaw Hedeler: Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938. Planung, Inszenierung und Wirkung. Mit einem Essay von Steffen Dietzsch, Berlin: Akademie Verlag 2003
Spätestens mit Solženicyns eindringlichen Beschreibungen ist der Begriff "Gulag" zum Synonym für Stalins Schreckensherrschaft geworden. Die intensiven Forschungen, die seit Perestroika und nach dem Zerfall der UdSSR zunächst einmal in den Moskauer Zentralarchiven möglich wurden, haben das System der Lagerhauptverwaltung des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (respektive Innenministeriums) in all seinen Verästelungen analysiert und endgültig offengelegt, dass es sich beim Gulag um mehr handelte als um ein systemisches Terrorinstrument oder um ein Wirtschaftsimperium: Seine Abteilungen stellten regionale Macht- und Einflusszentren dar und die Lebenswelt des Gulag prägte bis weit über seine Auflösung hinaus die Ausformung kollektiver Einstellungen und Wahrnehmungen, Interaktionen und Erinnerungen. [1]
Diese grundlegende, vielschichtige Bedeutung lässt sich gerade an einem konkreten Beispiel einer Lagerverwaltung besonders gut erfassen und zwar unter Zuhilfenahme der Archivalien der Bürokratie und Politik sowie der Beschreibungen ehemaliger Insassen. Das mehrjährige Großprojekt (2001-2004) von Wladislaw Hedeler und Meinhard Stark hat sich zur Aufgabe gestellt, aus diesen verschiedenen Perspektiven das Karagandinsker Besserungsarbeitslager in Kasachstan (Karlag) zu analysieren (Dokumentenband, 7f.). Die Ergebnisse liegen nun in einem umfangreichen Dokumentenband und einer Darstellung vor.
Die Fokussierung auf das Karlag ist sinnvoll: Hier gab es von 1929 bis 1959 alle wesentlichen Lagertypen des Gulag, die Häftlinge schufteten für wichtige Versorgungs- und Industriezweige, und sie prägten Gesicht und Geschichte der Region bis heute mit. Der öffentliche Umgang mit diesen Aspekten der sowjetischen Geschichte in Kasachstan erinnert im Übrigen an die unebene russische Vergangenheitspolitik: 1993 verabschiedete das kasachische Parlament ein "Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer der Massenrepressalien", verbannte 2002 aber die zentrale Lagergedenkstätte an einen Nebenort des damaligen Geschehens. Die Bevölkerung vor Ort zeigt kein großes Interesse an den dunklen Seiten der Vergangenheit, sondern erinnert sich an vermeintlich positive Seiten früherer Ordnung (Monografie, 437-444). Derartige aktuelle Momentaufnahmen lassen die Bruchstellen einer Gesellschaft erahnen, in der sich zwischen Häftlingen und Freien oft eine tiefe Kluft auftat, in der diese Personen und ihre Nachfahren jedoch auf engstem Raum zusammenlebten. Entlassene, so das Resümee von Befragten, taten sich in ihren ehemaligen Haftgebieten immer noch leichter mit der Reintegration als im restlichen Sowjetreich (Monografie, 13f.).
Die abgedruckten, einwandfrei übersetzten 119 Dokumente sind dem Lagerarchiv, das sich in Karaganda befindet, entnommen. Eine thematische Gliederung der Dokumente wäre allerdings einfacher zu handhaben gewesen als die gewählte chronologische Anordnung - detaillierte Personen- und Ortsregister können hier nur begrenzt weiterhelfen. Auch die Kommentare hätte man sich mitunter informativer gewünscht (58, 70). Auf eine analytisch-komparative Einbettung in die Gesamtlandschaft des Gulag verzichten im Übrigen beide Bände. Dafür liefert die Monografie eine minutiöse Beschreibung des Lageralltags in den Haftstätten des Karlag, die von der Haftordnung über Freundschaften, von Bekleidung über Kinderheime alle denkbaren Facetten des Häftlingslebens ausleuchtet. Hierfür wurden die administrativen Dokumente durch eine Auswertung von 1080 Häftlingsakten ergänzt. Ob deren Ergebnisse repräsentativ für die Lagergesellschaft sind, scheint fraglich: Von den Personalakten, die für jeden der rund 800.000 Karlaghäftlinge angelegt wurden, wurde zu Sowjetzeiten ein Großteil aus nicht näher erläuterten Gründen vernichtet. Bewusst aufbewahrt wurden dagegen Akten von Ausländern oder von im Lager erschossenen Opfern (Monografie, 14). Die übergroße Mehrheit der im Lager Verstorbenen ging allerdings an den vorherrschenden Lebens- und Arbeitsbedingungen zugrunde. Im Längsschnitt erwies sich die hohe Arbeitsbelastung, die durch Unterschlagung und Desorganisation zusätzlich verminderte Mangelverpflegung, sanitäre und medizinische Unterversorgung und die für das harsche Klima oftmals ungeeigneten Unterkünfte als Ursachenkonglomerat für die hohe Sterblichkeit im Karlag. Hedeler/Stark gehen von über 38.000 Toten aus, das sind rund fünf Prozent der Gesamtbelegung. Die chronologische Aufschlüsselung der Todesraten belegt einmal mehr, dass sich die Gulaghäftlinge am untersten Ende einer Mangelgesellschaft befanden: Nach den plan- und gewissenlosen Anfangsjahren der Verwaltung lagen weitere Höhepunkte des Massensterbens im Hungerjahr 1933 und in den Kriegsjahren (Monografie, 382).
Schließlich haben die Autoren mit 49 ehemaligen Häftlingen lebensgeschichtliche Interviews geführt sowie 14 weitere schriftliche Berichte ausgewertet. Das Spektrum der Gesprächspartner und Autoren umfasst u.a. Russen, Polen, Ukrainer, Balten sowie eine ganze Anzahl von deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen. Über die chaotischen Aufbaujahre des Karlag ließ sich Anfang des 21. Jahrhunderts nicht mehr mit Zeitzeugen sprechen; die 63 Berichte decken den Zeitraum von 1936 bis 1956 ab (26). Auf diese Weise spiegelt sich der frühe Krieg des Gulagsystems gegen die einheimische Nomadenbevölkerung nicht in den genutzten Häftlingserinnerungen. Bereits 1933 beanspruchten acht Haftabteilungen mit über 70 Lagerpunkten, die das Karlag ausmachten, ein Territorium von der Größe des deutschen Bundeslandes Sachsen. Einheimische Nomaden setzten sich gegen den Verlust ihres Weidelandes zur Wehr, konnten sich aber gegen den massiven Druck nicht behaupten (33f.); Häftlinge griffen darüber hinaus 1931/32 mit Billigung und Unterstützung ihrer Wärter selbst feste Siedlungen an, um sich Nahrung zu verschaffen (41). Kasachische Häftlinge litten in der ersten Hälfte der 1930er Jahre schließlich unter gezielter zusätzlicher Diskriminierung seitens der Lagerverwaltungen (Dokument Nr. 11). Die regionale Kultur wurde im Gulag buchstäblich untergepflügt und ausgeschlachtet (Dokumente 12, 58). Das Zusammenleben von Gulag- und Zivilgesellschaft blieb weiterhin spannungsgeladen: Zivilisten beispielsweise erhielten Geldprämien, wenn sie flüchtige Gefangene aufspürten (Monografie, 46f.). Im Innern des Gulag wiederum blieb der Gegensatz zwischen "kriminellen" und "politischen" Häftlingen bedeutsam. Dabei machen die Autoren zu Recht darauf aufmerksam, dass derartige Kategorisierungen der stalinistischen Justiz fragwürdig sind: Die Kriminalisierung von Bürgern fußte oft genug auf politisch-ideologischen Vorgaben Moskaus und verzerrt entsprechende Statistiken (Monografie, 177f.). Nichtsdestoweniger waren gewaltkriminelle Gefangene für die politischen Häftlinge eine Belastung, oft genug eine Gefahr. Sie erwiesen sich gegenüber der Lagerobrigkeit ebenfalls als rücksichtslos renitent. Ihre Welt bleibt auch den Autoren dieser Studie weitgehend verschlossen.
Insgesamt bieten die Bände eine Fülle von Einsichten in Leben und Überleben im Karlag. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf Bedingungen und Erfahrungen der desaströsen Lagerverhältnisse, hinter denen die weite Ausstrahlung des Gulag in Raum, Zeit und Gesellschaft zurücksteht. Diese Konzentration folgt letztlich den Häftlingserfahrungen, die sich innerhalb des Lagersystems eigene Orientierungs- und Vergleichspunkte suchen mussten und im Lageralltag das Zeitgefühl verloren (253). [2] Sie spiegelt schließlich auch die verkürzte Perspektive der Lagerverwaltungen selbst wider: Ende 1934 befahl die Verwaltung die "Einrichtung eines Lagermuseums, das die Vorstellung der Ergebnisse des Lagers bei der Umgestaltung der Natur und beim Umschmieden der Menschen zum Ziel hat." (Dokument 15) Doch in der Praxis galt das Augenmerk der Administration allein der Erfüllung der Arbeitsnormen und Planvorgaben. Das Museumsprojekt der Verwaltung versandete. Die Lagerzeitschrift stellte noch 1934 die Berichterstattung über innen- und außerpolitische Themen ein und wurde später umbenannt in "Für die sozialistische Tierproduktion": "Eine Welt außerhalb des Lagers schien nicht zu existieren." (Dokumentenband, 14)
Anmerkungen:
[1] Grundlegend die siebenbändige Dokumentation "Istorija Stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch - pervaja polovina 1950-ch godov", Moskau 2004-2005; Oleg V. Chlevnjuk: The history of the Gulag. From collectivization to the great terror, New Haven 2004; Galina M. Ivanova: Istorija Gulaga. 1918-1958, Moskau 2006.
[2] Vgl. bereits Aleksandr I. Solženicyn: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, München 1963.
Andreas Hilger