Horst Groepper: Bismarcks Sturz und die Preisgabe des Rückversicherungsvertrages. Bearbeitet und herausgegeben von Maria Tamina Groepper, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008, 600 S., ISBN 978-3-506-76540-6, EUR 88,00
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Bei dem vorliegenden Band handelt es sich nicht um die Studie eines Fachhistorikers, sondern, so könnte man es formulieren, um eine Art Alterswerk eines historisch gebildeten Diplomaten der alten Schule. Der Autor schaffte es zwar nicht mehr, dieses ganz zu vollenden, seine Tochter Maria Tamina Groepper sah aber mit seinem Einverständnis nach seinem Tode den vorhandenen Text durch, ergänzte ihn und fügte als Nachwort einen umfangreichen Forschungsbericht an. Horst Groeppers Interesse für sein Thema ist auch und vor allem biografisch bedingt: Er wurde 1909 in Kiel als Sohn eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Offiziers geboren und wuchs in konservativen und kleindeutsch-national gesinnten Verhältnissen auf. Nach dem Studium in Tübingen, Bonn und Münster und kurzer Tätigkeit als Gerichtsassessor trat er in den Auswärtigen Dienst ein und war von 1939 bis 1941 unter Friedrich Werner Graf von der Schulenburg Legationssekretär an der deutschen Botschaft in Moskau. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Groepper seine diplomatische Karriere für die Bundesrepublik Deutschland fort; er half, die deutsche Botschaft in Moskau neu aufzubauen, war dort von 1956 bis 1960 Botschaftsrat Erster Klasse und schließlich 1962 bis 1966 deutscher Botschafter in der UdSSR - als solcher gleichsam einer der Nachfolger Bismarcks, der von 1859 bis 1862 diese Funktion am Zarenhof in Sankt Petersburg für Preußen ausgeübt hatte. Groeppers Abschied aus dem Auswärtigen Dienst im Jahr 1973 noch vor dem Erreichen der Pensionsgrenze erfolgte nicht ganz freiwillig. Groepper stand der Neuen Ostpolitik der Regierung Brandt / Scheel kritisch gegenüber und wurde deshalb in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Er war sehr eloquent, gebildet, belesen, theater- und kunstliebend, weshalb es nicht verwundert, dass er seinen Ruhestand unter anderem einer historischen Arbeit widmete. Groeppers persönliche und berufliche Sozialisation sowie seine Erfahrungen als Diplomat haben hierbei deutlich auf den Untersuchungsgegenstand abgefärbt: Zum einen seine unverkennbar in preußisch-deutscher Tradition stehende unerschütterliche Bismarck-Verehrung, dessen Friedenspolitik, wie Groepper sie interpretierte, vor allem herausgestellt wird, und zum andern seine Betonung einer deutsch-russischen Interessengemeinschaft - hierin spiegelt sich zweifellos Groeppers nach 1945 gewonnene Überzeugung wider, dass in Moskau der Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage liege. Groepper sah in Bismarcks Sturz und der Nichtverlängerung des 1887 auf drei Jahre geschlossenen geheimen Rückversicherungsvertrages zwischen dem Deutschen Reich und Russland "den Ausgangspunkt der deutschen Katastrophe" (14), insofern stellt der Band auch eine Art Beitrag zur Bewältigung des Traumas seiner Generation dar, des Untergangs des 1871 gegründeten Deutschen Reiches als Folge des Zweiten Weltkriegs.
Verfasst wurde der Band hauptsächlich auf der Basis der einschlägigen gedruckten Quellen sowie von Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts, mit der ihm selbstverständlich bekannten einschlägigen Forschungsliteratur, zumal der jüngeren, sowie allgemein mit Theoriefragen hat sich Groepper dagegen in seinem Haupttext argumentativ kaum auseinandergesetzt. Bezeichnend ist etwa, dass er einleitend als Referenzwerk Hans-Ulrich Wehlers 1969 in erster Auflage erschienenes Buch "Bismarck und der Imperialismus" zitiert, ohne auf grundlegende Probleme wie die Thesen vom deutschen Sonderweg oder dem Primat der Innenpolitik auch nur ein wenig einzugehen. Insofern war es eine gute Entscheidung der Bearbeiterin und Herausgeberin, Groeppers Text einen sachkundigen Forschungsbericht anzuhängen, der es dem Leser ermöglicht, die Ausführungen ihres Vaters in den wissenschaftlichen Kontext einzuordnen. Allerdings gilt auch für diesen Forschungsbericht, dass die grundsätzlichen und seit den späten 1960er Jahren bekanntlich teilweise mit harten Bandagen geführten Theoriedebatten um den Stellenwert von Außenpolitik kaum behandelt werden. Nicht aufgegriffen werden auch neuere transnationale Fragestellungen. Man kann zwar nicht davon sprechen, dass der Band von der Annahme eines unbedingten Primats der Außenpolitik ausgeht, doch folgt das Erkenntnisinteresse der Herausgeberin wie des Autors deutlich den klassischen Methoden historistischer Geschichtswissenschaft bzw. der traditionellen Diplomatiegeschichte. Im Vordergrund stehen scheinbar autonom handelnde Einzelne, Konflikte um Sachfragen werden gerne personalisiert, Außenpolitik in erster Linie als Kabinettspolitik gesehen und auch so analysiert und deshalb Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenpolitik nur wenig thematisiert. Die unterstellte Genialität von Bismarcks außenpolitischer Konzeption wird von Groepper, der hierbei Bismarcks zeitgenössischer Selbsteinschätzung uneingeschränkt folgt, nicht hinterfragt, mit deutlichem Unwillen spricht er davon, dass der Rückversicherungsvertrags im Speziellen und Bismarcks Vertragssystem als solches als "System der Aushilfen" (Lothar Gall) abgewertet werde (16). Insofern steht für ihn, auch wenn er diese These nur als Frage formuliert, letztlich außer Diskussion, dass eine Fortsetzung von Bismarcks Außenpolitik geeignet gewesen wäre, den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu verhindern: "Wäre es zu all dem auch gekommen, wenn das Kernstück des RVs [= Rückversicherungsvertrags], die gegenseitige Neutralität, dem Wunsch Bismarcks und des Zaren entsprechend als dauernde Abmachung Grundlage der deutsch-russischen Beziehungen geblieben wäre?" (23) Entsprechend schlecht kommen Wilhelm II., Alfred Graf von Waldersee, Friedrich von Holstein und Leo Graf von Caprivi in der Darstellung durchgängig weg. Nun wird man die Außenpolitik des "Neuen Kurses" keineswegs naiv verteidigen wollen. Doch berücksichtigt Groepper zu wenig, dass der Rückversicherungsvertrag erstens nicht geeignet war, die französische Gefahr grundsätzlich aus der Welt zu schaffen, zweitens die deutsch-russischen Bindungen vor allem eine Angelegenheit der Höfe in Berlin und Sankt Petersburg war, weshalb es in beiden Ländern zunehmend an Rückhalt in einer breiteren Öffentlichkeit hierfür fehlte: In Russland deswegen, weil der profranzösische Panslawismus immer mehr an Boden gewann, im Deutschen Reich, weil die von Bismarck stets propagierte Saturiertheit des Reichs, der Verzicht auf weiteres Wachstum nach dem Vorbild der anderen Großmächte, notwendigerweise zu einer unpopulären Politik der Stagnation, der Erstarrung und der Bewegungslosigkeit, ja, so wurde es von den Propagandisten einer deutschen Weltpolitik empfunden, des Rückschritts führen musste. Ob eine Fortsetzung der Außenpolitik Bismarcks mit ihrer "existenzsichernden Zukunftslosigkeit", wie es Klaus Hildebrand in seinem Klassiker "Das vergangene Reich" treffend ausgedrückt hat, mittel- und langfristig überhaupt möglich gewesen wäre, muss insofern als fraglich bezeichnet werden.
Doch sollen diese kritischen Anmerkungen den Wert des Bandes grundsätzlich nicht in Frage stellen. Es handelt sich ohne Zweifel um eine sorgfältig recherchierte, lesenswerte und auch gut lesbare Studie. Über die eigentliche Intention des Verfassers hinaus dürfte sie zudem für moderne Diplomatiehistoriker eine nützliche Traditionsquelle im Hinblick auf Geschichtsbilder und Wertewelt von Vertretern des diplomatischen Dienstes der frühen Bundesrepublik darstellen.
Matthias Stickler