Bernd Ulrich / Benjamin Ziemann (Hgg.): Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein Historisches Lesebuch, Essen: Klartext 2008, 160 S., ISBN 978-3-8375-0015-8, EUR 18,90
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Die Herausgeber, den Lesern seit vielen Jahren als Historiker bekannt, die sich mit zahlreichen Facetten des Ersten Weltkrieges auseinandersetzen und sich oft auf Neuland wagen, haben ein fast 15 Jahre altes Buch recycelt: in dem 1994 im Fischer Verlag erschienenen Buch hatten sie aus Archiven und Publikationen Ausschnitte aus über 200 Dokumenten zusammengetragen, die aus damaliger Sicht den "Wahn" der militärischen Führung mit der von den Soldaten erlebten "Wirklichkeit" des Krieges kontrastierten (1994, 21). Und selbst wenn die Herausgeber die beiden Begriffe in Anführungszeichen setzten, ließen sie keinen Zweifel daran, dass sie der Sicht von unten eine größere Wahrhaftigkeit zubilligten als den Aussagen von militärischer und politischer Führung.
Für ihr Remake haben die Herausgeber einige wenige Quellen ergänzt oder gestrichen, auf eine Dix-Abbildung verzichtet, das Literaturverzeichnis um einschlägige aktuelle Publikationen erweitert und ihren Einführungstext ohne viel Aufwand getunt. So fügen sie an eine These aus dem Jahr 1994 in einer neuen Fußnote die 2003 von Boris Barth veröffentlichte Arbeit zu den Dolchstoßlegenden an. Eine schnelle, aber wenig überzeugende Auseinandersetzung der eigenen Arbeit mit der neuen Forschung. Bis auf Nuancen also ist es dasselbe Buch - nur wird nicht mehr Wahn neben Wirklichkeit präsentiert, sondern - weitaus bescheidener - die Quellensammlung als "Lesebuch" ausgegeben. Die Herausgeber präsentieren in sechs Kapiteln Aussagen zum Kriegsbeginn und zum -ende, zur Kriegswirklichkeit, zu Missständen sowie Formen der Verweigerung. Sie erläutern die Quellen, liefern Informationen zu den Personen oder Hintergründen. Ihre Dokumente sollen, so der Anspruch, im Unterricht Anschauung zum Kriegserleben der Mannschaftssoldaten bieten und Lerneffekte initiieren (13).
Um nicht falsch verstanden zu werden: Viele Dokumente sind und bleiben dramatisch. Sie verdeutlichen den Druck, der auf denjenigen lastete, die sich nicht freiwillig zum Kriegsdienst meldeten (25f.). Sie spiegeln vielfältige Versuche der Soldaten wider, das Erlebte in zum Teil ungelenke Worte zu fassen und den Kontakt mit der Heimat aufrechtzuerhalten (44ff.). Briefe belegen den Druck, den die Zensur ausübte und dokumentieren das raffinierte Umgehen durch vereinbarte Codes (100ff.). Die Quellenausschnitte künden von den Sorgen und Hoffnungen der Soldaten. Sie schildern, mit welcher Brutalität Mediziner gegen vermeidliche Drückeberger vorgingen (73f.) und welche Disziplinierungsmaßnahmen der Militär-Strafvollzug bot (85f.). Und die Quellen reflektieren auch die Verzweiflung der Angehörigen, die den Tod nicht glauben wollten und vermuteten, dass die Söhne, Männer und Brüder stattdessen als "Korbmenschen" in Geheimlazaretten vegetierten (57). Der Fall einer jungen Frau, die mittels eines fiktiven Briefes ihres gefallenen Bruders hoffte, die Armee zu zwingen, ihr zu offenbaren, dass der Bruder nicht tot, sondern schwer kriegsversehrt versteckt sei, bezeugen das Ausmaß der Verzweifelung (57). Dieses Dokument ist zugleich ein Beispiel für die vielen Einzelfälle und Schicksale, die aus den Quellen sprechen - ohne jedoch ein zusammenhängendes Bild zu ergeben.
Kurzum: Viele der Quellen lassen auch erfahrene Weltkriegshistoriker nicht kalt. Aber die Dokumente sind nach Ansicht der Rezensentin keine anschauliche Illustration des Kriegsgeschehens. Vielmehr verdeutlicht die Lektüre, dass der Weltkrieg in ebenso viele Wahrnehmungen und Deutungen zerspringt, wie es Teilnehmer gegeben hat. Welche übergreifenden und strukturierenden Thesen also sollen die hier versammelten Quellen veranschaulichen? Als Lesebuch genutzt sind die Lerneffekte - oder richtig: die Erkenntnisse - gering, um sich aber bewusst zu machen, wie viel an abweichenden Wahrnehmungen in Darstellungen des Ersten Weltkrieges fortgeglättet werden, eignet sich die Quellensammlung umso mehr. Und möglicherweise ist die Publikation für manchen Leser auch ein gutes Ideenreservoir für noch zu schreibende Arbeiten.
Insgesamt haben die Herausgeber eine Veröffentlichung vorgelegt, die so tut, als habe es das Original nicht gegeben. Der in das Lesebuch einführende Text lässt vermuten, dass es in der historischen Forschung keine nennenswerte Auseinandersetzung mit dem Kriegserleben in den vergangenen 15 Jahren gegeben habe - wie sonst könnten die Herausgeber fast wörtlich übernehmen, was sie zum 80. Jahrestag des Kriegsbeginns schrieben? Und sie bleiben dem Leser nach wie vor eine Antwort darauf schuldig, aus wie vielen Quellen die rund 200 Ausschnitte ausgewählt wurden. Weder die Repräsentativität der Auswahl noch die der in den Archiven bewahrten Quellen (vor allem bei den Feldpostbriefen und Tagebüchern) wird thematisiert und das müssten die beiden Herausgeber eigentlich viel besser können. Etwas mehr Mühe hätte der erneuten Veröffentlichung sehr gut getan.
Susanne Brandt