Morten Reitmayer / Ruth Rosenberger (Hgg.): Unternehmen am Ende des "goldenen Zeitalters". Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte; Bd. 16), Essen: Klartext 2008, 338 S., ISBN 978-3-89861-779-6, EUR 24,90
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Das Ende ist nah. Und nirgends scheint es derzeit näher als in der boomenden Forschung zu den Siebzigerjahren. Ob das "Ende der alten Ordnung" [1], das "Ende der Zuversicht" [2] oder wie hier das "Ende des 'goldenen Zeitalters'" - zumindest ein Konsens scheint bereits erzielt, noch ehe die diversen gerade anlaufenden Projekte sich an ihren jeweiligen Themen abgearbeitet haben: Es ging eine Epoche zu Ende, und die darauffolgende brachte - zumindest für die Zeitgenossen - nicht wenige Enttäuschungen nach zweieinhalb Jahrzehnten wachsenden Wohlstandes, die zumindest die westliche Welt genossen hatte (ob diese Periodisierung auch außerhalb Europas und Nordamerikas relevant ist, scheint noch völlig offen). Wann genau sich dieser Umbruch zutrug, zählt zu den derzeit am meisten diskutierten Fragen. Doch auch hier zeichnet sich ab, dass eine präzise Bestimmung auf ein Epochenjahr à la 1914 oder 1945 wenig Wahrscheinlichkeit beanspruchen kann. Vielmehr erscheinen die "1970er" als ein breiter Zeitkorridor, der sich - je nach Problemstellung - von der Mitte der 1960er-Jahre bis weit in die 1980er-Jahre hinein erstreckt und somit genau genommen weniger einen Dekadenbegriff darstellt als eine Chiffre für eine Vielzahl zeitlich verdichteter, wechselseitig überlappender und einander beeinflussender Transformationsprozesse.
Für eine solche Lesart, soviel sei vorweg genommen, findet sich reichhaltiges Material in dem vorliegenden Sammelband, den Ruth Rosenberger und Morten Reitmayer sorgfältig ediert und mit einer ungemein anregenden Einleitung versehen haben. Darin nehmen sie den im Buchtitel enthaltenen Bezug auf Eric Hobsbawms viel zitierte Wendung vom "Golden Age" auf, um sich von der retrospektiven, nicht selten nostalgisch überformten Perspektive abzusetzen, welche die ältere zeitgeschichtliche Forschung gegenüber dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eingenommen hat. Rosenberger und Reitmayer plädieren hingegen im Anschluss an Hans Günter Hockerts für eine Neujustierung des Blickwinkels auf einen "Beginn der Gegenwart" (10), um die Bruchlinien der 1970er-Jahre bis in die tagesaktuellen Entwicklungen zu verfolgen. Nicht zuletzt soll es darum gehen, die Ambivalenzen von Um-, Auf- und Ausbrüchen nachzuzeichnen und so ein vielfarbigeres Bild zu malen als die von Zeitgenossen erzählte Verlustgeschichte.
Anders als das Gros der bislang vorliegenden Literatur bietet der vorliegende Band empirisch belastbare Ergebnisse, und dies macht den großen Reiz der Aufsatzsammlung aus, die mit der gewählten unternehmens- und wirtschaftshistorischen Perspektive ein klar umrissenes Feld absteckt und nicht beansprucht, ein umfassendes Narrativ für die 1970er-Jahre anzubieten. Zudem zeigt die Anthologie in methodischer Hinsicht mustergültig, wie die Theorie- und Deutungsangebote der sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen genutzt werden können: einerseits um klar umrissene Forschungsanfragen an das empirische Material zu stellen, andererseits um die Grenzen dieser notwendig pauschalen Erklärungen aufzuzeigen. So bieten die Beiträge theoretisch fundierte Anwendungen etwa von Hansjörg Siegenthalers Krisenbegriff als Zeitraum, in dem altes Regelvertrauen aufgelöst wird und Lernprozesse zur Neubildung erforderlich sind (Stephanie Tilly), von Niklas Luhmanns Unternehmensverständnis als Entscheidungssequenz, welche die Abgrenzung zur und Komplexitätsreduktion der Umwelt ermöglicht (Werner Plumpe), oder von Michel Foucaults Ausführungen zur Intergouvernementalität bzw. richtiger: zu Ulrich Bröcklings Lesart, die Jan-Ottmar Hesse aus dogmengeschichtlicher Perspektive skeptisch prüft.
Darüber hinaus setzen sich gemäß der Vorgabe der Herausgeber nahezu alle Beiträge mit der von Luc Boltanski und Ève Chiapello postulierten These vom "Neuen Geist des Kapitalismus" auseinander. In Einzelfallstudien wird geprüft, ob dieser in Gestalt einer netzwerkförmigen, projektbasierten und zunehmend amorphen Organisationsstruktur unternehmerische Organisation und Unternehmerselbstbild in/seit den 1970er-Jahren transformierte und damit die Rechtfertigungslogik des kulturell, politisch und ökonomisch unter Druck geratenen westlich-kapitalistischen Modells erfolgreich modifizierte. Das Gesamtergebnis fällt ambivalent aus. Einen neuen Geist im Sinne von Boltanski/Chiapello kann die Mehrheit der Autoren nicht ausmachen. Vielmehr erweisen sich die Transformationsprozesse in den im Abschnitt "Produzenten" versammelten Unternehmensgeschichten als chronologisch und inhaltlich disparat, die Probleme oft als hausgemacht und die gewählten Lösungen bzw. die Gründe für das Scheitern als hochgradig individuell. Auch im folgenden Abschnitt zur "Politik" stechen die Vielfalt der Zäsurdaten und die längeren zeitlichen Linien ins Auge, ohne dass ein hegemoniales soziales Ordnungskonzept zu erkennen wäre. Dies scheitert nicht zuletzt an unterschiedlichen Voraussetzungen, wie Manuel Schramms Beitrag zum Wissenstransfer im deutsch-deutschen Vergleich demonstriert: Zum einen seien die Bedingungen, den Strukturwandel institutionell zu verarbeiten, in den beiden Staaten höchst unterschiedlich gewesen; zum anderen ließen sich bedeutende Branchen kaum sinnvoll in ein telelogisches Transformationsparadigma zum Postfordismus einordnen, wenn sie wie der Maschinenbau nie fordistisch organisiert gewesen seien, so Schramm. Und in der DDR und Polen mochten, konstatiert Friederike Sattler, zwar "neuartige wirtschaftliche Netzwerkstrukturen" (208) entstehen, doch seien diese informeller und oft illegaler Natur gewesen und daher nicht dazu angetan, das etablierte Wirtschaftssystem mit einer zusätzlichen Rechtfertigungslogik zu versehen.
Am erfolgreichsten lässt sich die Herausbildung des "neuen Geistes" bezeichnenderweise im "Semantiken"-Abschnitt zu den Veränderungen der Selbst- und Fremdbeschreibungen von Unternehme(r)n nachvollziehen. Hier zeigt Susanne Draheims Aufsatz - mit einer feinen Volte zur aktuellen hochschulpolitischen Debatte -, dass sich in den vergangenen drei Jahrzehnten in der Tat ein dominanter Diskurs herausgebildet hat, der individuelle Akteure zur permanenten Arbeit am eigenen Humankapital anhält, auf dass es optimiert und am Markt nachgefragt werde. Welchen Anteil Unternehmensberater an den Moden und Trends der Unternehmerstrategien und -strukturen hatten, arbeitet Plumpe heraus. Den entscheidenden Punkt setzt er jedoch nicht in der Ablösung des one best way zugunsten spezifischer, flexibler und 'weicher' Konzepte, sondern vielmehr im Erfolg der Berater, die Persistenz von Entscheidungssicherheiten und -fähigkeiten über die Krise hinaus zu suggerieren.
Die Fülle weiterer Einzelergebnisse kann an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden. Lediglich exemplarisch sei auf Tim Schanetzkys überzeugende Kombination exogener und endogener Faktoren verwiesen, mit der er die wirtschaftspolitische Problemlage der 1970er-Jahre skizziert, sowie auf den von ihm dargelegten Paradigmenwechsel von der Globalsteuerung zu unternehmerzentrierten Anreizsystemen. Die auf Unternehmerseite nach 1968 ausgeprägte "Belagerungsmentalität" wird von Werner Bührer und Werner Kurzlechner eindrücklich gezeichnet und auch in Tillys Beitrag bestätigt (153, 240, 289). Ihr Aufsatz ist zudem deswegen instruktiv, weil sie die zeitliche Dynamik der 1970er-Krise gewissermaßen umkehrt. In ihrer überzeugenden Interpretation ist der Ölpreisschock 1973 keineswegs Auslöser der Krise, sondern vielmehr "Kulminationspunkt" (231) vorangegangener Erosionsprozesse. Die Schwere des Schlages war demnach nicht sui generis, sondern resultierte aus der Auflösung, die das Regelvertrauen zu diesem Zeitpunkt ergriffen hatte. Dies spricht für die ganz erhebliche Ungleichzeitigkeit in den Wandlungsprozessen, die bislang unter den 1970er-Jahren rubriziert werden. In den Fallbeispielen von Tilly und Manfred Grieger (VW) waren die Probleme zur Mitte des Jahrzehnts schon fast wieder vorbei, während sie für den Computerhersteller Kienzle oder das Rüstungsunternehmen Rheinmetall Berlin gewissermaßen gerade erst anfingen, wie die profunden Analysen von Armin Müller und Stefanie van de Kerkhof demonstrieren. Dies stellt die Grundsatzfrage nach der heuristischen Reichweite der Dekaden-Vermessung. Der vorliegende Band bietet einen ganz hervorragenden Ausgangspunkt für ihre Beantwortung.
Anmerkungen:
[1] Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München 2005, 671.
[2] Konrad Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008.
Kim Christian Priemel