Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 140 S., ISBN 978-3-525-30013-8, EUR 15,90
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Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard (Hgg.): Liberalismus im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015
Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2003
Lutz Raphael: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914-1945, München: C.H.Beck 2011
Die von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael vorgenommene Konzeptualisierung und Periodisierung der Zeitgeschichte bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte auch für die neuere Kulturgeschichte. Zum einen ist das klare Plädoyer zu begrüßen, "methodische und theoretische Scheuklappen" abzulegen (93); so werden die bisweilen noch immer mit Argwohn betrachteten theoretischen Grundlagen kulturhistorischer Forschung wie etwa Michel Foucaults Überlegungen zu Biopolitik und Gouvernementalität von den Autoren als für die Zeitgeschichte wegweisende Ansätze vorgestellt. Zum anderen markieren Doering-Manteuffel und Raphael mit der Körper- und Geschlechtergeschichte sowie wissens- und konsumhistorischen Fragestellungen als zukünftige Arbeitsbereiche eben jene, die in der neueren Kulturgeschichte seit Längerem zu den zentralen Forschungsfeldern zählen.
Aus der Vielzahl an Fragen, die sich aus dem hier entworfenen Forschungsprogramm ergeben, möchte ich zwei Aspekte herausgreifen, die im Rahmen einer kulturhistorisch ausgerichteten Zeitgeschichte meines Erachtens einer genaueren Betrachtung bedürfen: Erstens die "Krise der Arbeitsgesellschaft" (34), die von den Autoren als Charakteristikum der Epoche verstanden wird und die es unter anderem aus migrations- und geschlechterhistorischer Perspektive zu problematisieren gilt, und zweitens die aus der Perspektive der politischen Ökonomie erfolgende Konzeptualisierung der Jahrzehnte zwischen 1965/70 und 1995/2000 als durch einen "Strukturbruch" und einen "sozialen Wandel von revolutionärer Qualität" (10) charakterisierten Zeitraum.
An zentraler Stelle greifen Doering-Manteuffel und Raphael die Arbeitsmigration auf. Den Fokus legen sie dabei auf die von ökonomischer Rezession und Arbeitslosigkeit besonders betroffenen Arbeitsmigranten, die "in zugespitzter Weise und sehr früh" die Auswirkungen des "Strukturbruchs" erlebt hätten (100). Prinzipiell stellt sich jedoch die Frage, inwiefern eine migrantische Perspektive auf die gesellschaftlichen Transformationen seit den 1970er Jahren lediglich zu einer weiteren, das Bild vervollständigenden Geschichte des "Strukturbruchs" führt oder ob dieser Blickwechsel nicht vielmehr eine grundsätzliche Problematisierung der vorgenommenen Periodisierung und der These vom Ende der stabilen Nachkriegsordnung impliziert. Bereits die Ausgangsannahme der beiden Autoren, dass "Arbeitsplatz und Arbeitswelt im traditionellen Sektor industrieller Produktion [...] immobil" gewesen seien (40), wäre für die Arbeitsmigranten und -migrantinnen insofern zu relativieren, als diese verhältnismäßig häufig Arbeitsplatz und Wohnort wechselten und von Beginn der Anwerbung an transnationale Formen der Zugehörigkeit entwickelten. Von einem "kulturelle[n] Zusammenhang von Fabrik, Familie, Feierabend an ein und demselben Ort" (40) kann für diese soziale Gruppe daher nur sehr eingeschränkt die Rede sein. Ebenso wäre für die häusliche wie betriebliche Geschlechterordnung en detail zu überprüfen, inwiefern die Nachkriegsordnung sich tatsächlich als stabil charakterisieren lässt und die 1970er Jahre einen "sozialen Wandel von revolutionärer Qualität" zeitigten.
Die vielbeschworene Krise der Arbeitsgesellschaft wird von den Autoren zu Recht als geschlechtsspezifische "Krise der männlichen Industriearbeit" markiert (40), die nicht allein eine bestimmte Form körperlicher Arbeit und die Bedeutung der Schwerindustrie insgesamt betraf, sondern auch ein bestimmtes Männlichkeitskonzept ins Wanken brachte. Dass Frauen in weit seltenerem Maße in einem "Normalarbeitsverhältnis" standen und sich bereits in der Phase des Booms vielfach mit prekären, ungeschützten und unbezahlten Formen der Erwerbstätigkeit zufrieden geben mussten, wäre ein Anlass, auch aus geschlechterhistorischer Perspektive die konstatierten Zäsuren der bundesdeutschen Arbeitsgesellschaft - wie auch die Theorien über Fordismus und Postfordismus - genauer zu prüfen und gegebenenfalls zu modifizieren.
Den entscheidenden Strukturbruch in den 1970er Jahren untersuchen die Autoren zunächst aus der Perspektive der politischen Ökonomie, um "die großen Trends auf der Makroebene von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik" besser beschreiben zu können (14). Die grundlegende Argumentation ist dabei letztlich eine wirtschaftshistorische. Es sind das Erlahmen des Wirtschaftswachstums, die "insgesamt zunehmenden Krisenerscheinungen in der Wirtschaft" (35) und die Transformationen der industriellen Produktion, die primär das Ende der Nachkriegsordnung markieren und deren Auswirkungen auf Sozialsysteme und Leitbilder, Alltag und Lebenswelt thematisiert werden. Auch wenn die Autoren die Engführung auf einen (wirtschafts-, politik-, sozial- oder kulturhistorischen) Ansatz vermeiden wollen, treffen sie bereits mit dem Titel des Bandes Vorentscheidungen, die es zwar erlauben, nach den Rückwirkungen der ökonomisch-industriellen Transformationen auf andere gesellschaftliche Bereiche zu fragen, die jedoch eine gleichwertige Analyse der Eigenlogik und -dynamik der übrigen Teilsysteme der Gesellschaft erschweren.
Auch die Aussage, dass der Strukturwandel einen (sich deutlich langsamer vollziehenden) Mentalitätswandel erzwungen habe (35), zeigt, dass den verschiedenen Erscheinungen des Umbruchs eine unterschiedliche Schub- und Erklärungskraft zugeschrieben wird. Die Frage nach dem Tempo und nach der Wirkungsmacht der einzelnen "Triebkräfte des Umbruchs" (35) wäre meines Erachtens im Rahmen eines Forschungsprogramms zunächst offen(er) zu halten, um sie dann für den einzelnen Untersuchungsgegenstand erneut zu stellen und zu beantworten. Gerade weil sich argumentieren lässt, dass seit 1970 alle gesellschaftlichen Bereiche zunehmend ökonomisiert und politisiert worden sind, könnte man sich fragen, ob eine politisch-ökonomische Perspektive geeignet ist, um eben diesen Wandel adäquat zu beschreiben. Die neuere Kulturgeschichte würde hier möglicherweise einen anderen Ansatz wählen und etwa nach neuen Subjektivierungsweisen fragen, die am Ende des 20. Jahrhunderts ein "unternehmerisches Selbst" (Ulrich Bröckling) entstehen ließen. Bei (neuen) Subjektivierungsweisen anzusetzen hieße dann, quer durch verschiedene gesellschaftliche Sektoren hindurch nach spezifischen Regierungspraktiken und -rationalitäten zu fragen, die sich in eine langfristige Geschichte der Gouvernementalität einordnen lassen, es aber auch erlauben, Zäsuren in der neueren Zeitgeschichte zu setzen. "Nach dem Boom" ließe sich aus diesem Blickwinkel etwa durch "nach der Disziplinargesellschaft" ersetzen. Eine solche Periodisierung nimmt, wie Doering-Manteuffel und Raphael zu Recht herausstellen, tendenziell nicht Jahrzehnte, sondern "die Moderne" seit 1800 in den Blick (75) und fragt statt nach Strukturbrüchen nach epistemischen Brüchen und ihren Konsequenzen. Letztlich geht es also auch um unterschiedliche Konzeptionen des (linearen oder nicht linearen) historischen Wandels, über die es sich im Anschluss an den hier vorgestellten Essay weiter nachzudenken lohnt. Während die beiden Autoren einen politisch-ökonomischen Rahmen spannen, den es durch Mikrostudien auszufüllen gilt, arbeitet die neuere Kulturgeschichte mit Paradigmen, die eine Aufhebung der Unterscheidung von Makro- und Mikroebene anstreben.
Für die Einigung auf eine konsensfähige Konzeptualisierung und Periodisierung der jüngsten Zeitgeschichte scheint es mir noch zu früh - wenn man eine solche überhaupt für erstrebenswert hält. Mit Doering-Manteuffels und Raphaels Band liegt jedenfalls eine überaus spannende Interpretation vor, die einen zentralen Referenzpunkt der zukünftigen Forschung darstellt.
Maren Möhring