Rezension über:

Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 140 S., ISBN 978-3-525-30013-8, EUR 15,90
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Rezension von:
Jens Hacke
Hamburger Institut für Sozialforschung
Empfohlene Zitierweise:
Jens Hacke: Rezension von: Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/05/15520.html


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Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom

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Seit geraumer Zeit erkennen die Geschichtswissenschaften in der Ölkrise, dem Niedergang des Währungssystem von Bretton Woods und der Einsicht in die Grenzen des Wachstums zu Beginn der 1970er Jahre einen entscheidenden Einschnitt. Damals endete das Golden Age (Eric Hobsbawm), eine Zeit bis dato unbekannter wirtschaftlicher Blüte unter den strukturell stabilen Bedingungen des Kalten Krieges. Das Autorenduo Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael unternimmt es nun, die Epoche "nach dem Boom" genauer zu analysieren und damit Perspektiven für eine Zeitgeschichte als "Epoche der Mitlebenden" zu entwickeln, die in einer noch nicht abgeschlossenen Ära auch gegenwartsdiagnostisch relevant bleibt. Schon die sozialwissenschaftliche und ökonomische Akzentsetzung macht deutlich, dass hier zumindest implizit der Versuch gemacht wird, gegen die Tendenz eines kulturgeschichtlichen Exotismus der letzten Jahre anzusteuern und ein Comeback der "harten" Themen zu forcieren. In gewisser Weise kann man den Trend erkennen, wieder an die Sozialgeschichte als Historische Sozialwissenschaft anzuknüpfen, freilich nicht ohne die Paradigmen der Forschung zu modifizieren: Weder der Nationalstaat noch die Klassen- und Milieustrukturen, die der sozialgeschichtlichen Forschung einen Rahmen geliefert haben, lassen sich ohne Weiteres fortführen.

Sehr überzeugend legen die Autoren Bedingungsgefüge und Infrastruktur der Boomphase dar. Politisch eingebunden in den europäischen Integrationsprozess und das westliche Bündnis unter der Führung der USA blieb der Nationalstaat die wesentliche Steuerungsinstanz. Planification und Keynesianismus bestimmten den technokratisch-utopischen Glauben daran, Fortschritt normieren und dauerhaft gestalten zu können. Das fordistische Modell einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft verhieß Stabilität, die in einem liberalen Konsens den Ausgleich zwischen Kapital, Arbeit und Staat unter der Voraussetzung produktiven Wachstums dauerhaft erscheinen ließ und eine europaweite Ausdehnung des Wohlfahrtsstaates ermöglichte. Doering-Manteuffel und Raphael zeigen mit guten Argumenten, wie sich seit den 1970er Jahren unter dem Globalisierungsdruck ein neues Produktions- und Wirtschaftsregime etablierte, das diese Prämissen infrage stellte. Die Zementierung einer expansiven Sozialpolitik, die erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ihren Höhepunkt erreicht, ist gleichsam der verzögerte "Schlussstein des westeuropäischen Modernisierungsmodells" (30) und gießt Wasser auf die Mühlen eines neoliberalen Reformdenkens, das schließlich im angelsächsischen Raum den konservativen roll back der Thatcherites und Reaganomics antrieb. Nicht erst die Finanzkrise des letzten Jahres führt vor Augen, dass sich durch den Niedergang der Schlüsselindustrien und die dadurch bedingte Transformation der Arbeitsgesellschaft ein "digitaler Finanzmarkt-Kapitalismus" (8) etablierte, der neuartigen Parametern folgt, unsere Lebenswelt verändert und zu neuen Ungleichheiten führt.

Die Geschichtswissenschaft hat sich stets die Aufgabe gestellt, markante Zäsuren zu begründen, und es spricht vieles für einen Epochenwandel seit den 1970er Jahren. Doering-Manteuffel und Raphael konzentrieren sich zu einem guten Teil auf die Historisierung von soziologischen Zeitdiagnosen, an denen sich gesellschaftliche Entwicklungsschübe trefflich ablesen lassen. Allerdings ist es das Geschäft der seismografisch orientierten soziologischen Analyse, dem Wandel besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Das kann zu Verzerrungen führen. Auch in der postindustriellen Gesellschaft (Daniel Bell) verschwindet der unternehmerische Mittelstand nicht; die Risikogesellschaft (Ulrich Beck) bringt nicht nur Sicherheitsbedürfnisse, sondern neue Sicherheitsgaranten hervor; und der "flexible Mensch" (Richard Sennett) mag als Leitbild einer new economy dienen, beschreibt aber keineswegs flächendeckend gesellschaftliche Mentalitäten. Hier ist Vorsicht angebracht. Zwar verabschieden die Autoren eine vermeintlich naive Vorstellung der Modernisierungstheorie. Es ist aber daran zu erinnern, dass die Geschichte der letzten vierzig Jahre keineswegs so geradlinig verlaufen und intellektuell begleitet worden ist, wie teilweise suggeriert wird. Daniel Bell lässt sich nicht auf einen schlagwortspendenden Modesoziologen reduzieren, sondern hat dialektisch über die "cultural contradictions of capitalism" nachgedacht. Sogar die deutschen Vordenker eines technokratischen Konservatismus (Ernst Forsthoff, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky) hatten schon auf das labile Bedingungsgefüge eines expandierenden Sozialstaats verwiesen und lassen sich nicht umstandslos mit dem Zeitgeist in eins setzen.

Der Essay steckt in seinem kursorisch-tentativen Charakter ein noch wenig vermessenes Forschungsfeld ab. Vieles wird angetippt, aber gerade wenn es spannend wird, greifen die Verfasser häufig zum Konjunktiv. Das ist durchaus anregend, bleibt aber dort unbefriedigend, wo in den annoncierten Forschungshypothesen lediglich relativ unumstrittene Tatsachenfeststellungen zu sehen sind. Weder kann es überraschen, dass die Auswirkungen der sozioökonomischen Strukturkrisen zuerst im bildungsbenachteiligten Migrantenmilieu spürbar werden, noch löst es Erstaunen aus, dass den Zentren der Schwerindustrie neue Standorte der Wissensproduktion nachfolgen.

Die neuerliche - in vielerlei Hinsicht begrüßenswerte - Hinwendung zu sozialen und ökonomischen Makrostrukturen hat ihren Preis. Der Mensch in seinen individuellen Lebenserfahrungen ist in der von Doering-Manteuffel und Raphael vorgestellten Perspektive jenseits systemischer Eigenlogiken nur noch schwer greifbar; er wird auf ein Objekt von Sozialregulation reduziert und kann sich nur mühsam an neue technische und mediale Lebenswelten anpassen. Für den Eigensinn von kompensatorischen Handlungen und die Suche nach Entlastungen im Sinne einer historischen Anthropologie bleibt wenig Raum. Dazu passen die irritierende These vom "Rückgang des geschichtlichen Bewusstseins in den 1980er Jahren" und der zeitgleich konstatierte Abschied von der Fortschrittsidee (89). Unkommentiert erscheint diese Beobachtung angesichts deutscher Identitätsdebatten, einer forcierten Musealisierungstendenz und einer Rückbesinnung auf Denkmalschutz und Erinnerungspflege zumindest erläuterungsbedürftig.

Es versteht sich keineswegs von selbst, wenn das Autorengespann jede Fortschrittsidee, die auf "Demokratisierung, Emanzipation und Modernisierung" beruht (118), als erledigt ansieht. Sicherlich vermag heute eine dezidiert progressive Rhetorik keine Begeisterung mehr zu entfachen, aber es wäre wohl naiv zu glauben, dass soziale und politische Ideen ohne die Hoffnung auskommen, die Lebensverhältnisse nachhaltig zu verbessern. Vielleicht wird erst im Rückblick deutlich, wie erkenntnisleitend die modernisierungstheoretische Grundierung der Sozialgeschichte war. Bei allem, was man ihr vorwerfen kann: Über ihre Werturteile herrschte kein Zweifel. Der Historischen Sozialwissenschaft ging es um soziale Gerechtigkeit und Klassenchancen, um Demokratie und Partizipation; danach wurden die historischen Handlungsspielräume und Alternativen bemessen - der sozialdemokratisch geprägte, gesellschaftlich liberalisierte Wohlfahrtsstaat war das Ende der Geschichte. Nach der "Westernisierung" (Doering-Manteuffel) hat die Geschichtswissenschaft diese Überzeugungsgewissheit verloren. Die Zeithistorie kann sich nur schwerlich auf eine Position vermeintlicher Objektivität zurückziehen. Sie folgt der Politik nach, neue Bewertungsmaßstäbe für einen gut begründeten neuen Kompromiss zwischen ökonomischer Liberalisierung und sozialstaatlicher Konservierung zu finden. Wie komplex diese Anforderungen sind, welche "gedankliche Präzision" und Begriffssensibilität dafür notwendig wird (120), macht das Autorengespann deutlich.

Jens Hacke