Axel C. Hüntelmann: Hygiene im Namen des Staates. Das Reichsgesundheitsamt 1876-1933, Göttingen: Wallstein 2008, 488 S., ISBN 978-3-8353-0343-0, EUR 64,90
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Als 1994 nach einem HIV-Blutspendeskandal das Bundesgesundheitsamt aufgelöst wurde, konnte die oberste deutsche Medizinalbehörde auf eine beinahe 120-jährige Geschichte zurückblicken. 1876 war sie als Kaiserliches Gesundheitsamt gegründet worden. Die im Bundesarchiv deponierten Akten der meist Reichsgesundheitsamt (RGA) genannten Behörde werden von vielen Medizin- und Sozialhistorikern zu Themen des 19. und 20. Jahrhunderts herangezogen. Die Geschichte des RGA selbst aber war bislang ungeschrieben. Dies hat der jetzt am Senckenbergischen Institut für Geschichte der Medizin tätige Historiker Axel C. Hüntelmann mit seiner von Doris Kaufmann (Bremen) und Volker Hess (Berlin) begutachteten Dissertation geändert.
Hüntelmann scheut sich nicht, seine Darstellung mit streitbaren Bezügen zu Literatur, wissenschaftshistorischen Debatten und biopolitischen Gegenwartsfragen anzureichern. So wendet er sich gegen Mitchell G. Ashs Vorstellung von politikfernen und politikfreien Zonen in der Wissenschaft: "Wissenschaft war (und ist) essentieller Bestandteil politischer Strategien und vice versa." Hüntelmann spricht sogar von "einer Einheit von Wissenschaft, Politik, Kultur und Gesellschaft" (409). Ob es wirklich der Erklärung von Zusammenhängen dienlich ist, wenn eine derartige Kongruenz gänzlich unterschiedlich gefüllter Begrifflichkeiten postuliert wird, wäre zu diskutieren. Ähnliches gilt für die durchaus anregenden Betrachtungen zu Parallelen zwischen dem Reichsgesundheitsamt (RGA) einerseits und Bedrohungsszenarien aus der fiktionalen Literatur wie aus der realen Gegenwart andererseits. Aldous Huxleys normierten Menschen im Blick erkennt Hüntelmann Parallelen zwischen dem Ziel des Gesundheitsamts, die "Volksgesundheit" zu verbessern und den "biopolitischen Bestrebungen" von heute, die nationalökonomische "Wettbewerbsfähigkeit" zu sichern (416).
Als wichtiger kann man ansehen, dass es Hüntelmann vermag, dem Leser das Gesundheitsamt in seiner Komplexität als Teil eines "multiinstitutionellen, interpersonellen und wissenschaftlich-politisch-kulturellen Netzwerkes" vorzustellen (409). Dies macht den Reiz der Studie auch für denjenigen Leser aus, der sich weniger für die im Vordergrund der Untersuchung stehende Institution interessiert. Denn Hüntelmann gelingt es, das Reichsgesundheitsamt als "exemplarisch" für "die Geschichte des Deutschen Reiches" und dessen "Modernität" zu präsentieren (410). Zugleich warnt er vor einer Überhöhung seines Untersuchungsgegenstandes. Das RGA verfügte über einen Etat "im oberen Mittelfeld zwischen Normal-Eichungskommission und Reichsversicherungsamt"; es reichte in seiner Bedeutung nicht an die Medizinalabteilung des preußischen Kultusministeriums heran und war eine "dem Reichsamt des Innern untergeordnete, kompetenzlose Behörde", deren Führungspersonal in der Regel im Innenamt rekrutiert wurde (411).
Gleichwohl widmet sich der Autor der Darstellung einer bislang nur am Rande wahrgenommen Institution mit der erforderlichen Akribie und sprachlich angemessen. Denn das RGA wirkte in der Tat nicht durch politische, wohl aber durch wissenschaftliche und Politik beratende Kompetenz. Wie bei anderen Eliten war es bei den Ärzten nicht zuletzt deren Professionalisierung, die als "Antriebsmotor" zur Gründung des Gesundheitsamtes beigetragen hatte (34, 71). Freilich wurden die Ärzte rasch enttäuscht, als nicht prominente Vertreter aus ihren Reihen wie Pettenkofer oder Virchow, sondern der Militärarzt Heinrich Struck als Favorit Bismarcks erster Direktor des Gesundheitsamtes wurde. Die "scientific community" mit Virchow an der Spitze kritisierte die neue Behörde dann auch scharf; vom Reichsamt des Innern wurde Struck aufgrund seiner mangelhaften Verwaltungskenntnisse "schikaniert" (175). Trotzdem gelang es Struck, wesentliche Richtungsentscheidungen durchzusetzen. Er sah im Gesundheitsamt nicht allein eine Verwaltungsbehörde des öffentlichen Gesundheitswesens, sondern öffnete die Behörde für Forschung und Experiment. Ein bakteriologisches Labor wurde eingerichtet und der schon prominent gewordene Bakteriologe Robert Koch intensiv unterstützt.
Nach der Pensionierung Strucks leitete Koch 1884/85 sogar einige Monate lang das RGA, bevor mit Karl Köhler die Reihe der Direktoren begann, die dem preußischen Staatsdienst entstammten, die Früchte Strucks ernteten und insgesamt weniger Unmut auf sich zogen. Bis zum Ersten Weltkrieg expandierte das RGA, beachtete jedoch während der Weimarer Republik "das neue vererbungswissenschaftliche Leitparadigma" zunächst nicht. Gleichwohl konnte das RGA seinen Status als "Großbetrieb der Wissenschaft" bewahren - trotz der Kritik aus den Reihen der Rassen- und auch Sozialhygieniker (175f.).
Hüntelmann wählt neben dem chronologisch-deskriptiven einen an Fallbeispielen orientierten systematischen Zugang. So widmet er sich nach einer umfassenden Erörterung der Begrifflichkeit den "Netzwerken" innerhalb des RGA mit seinen zahlreichen Kommissionen wie denen zur "Vorbereitung des Nahrungsmittelgesetzes", "zur Revision der Prüfungsordnungen", zur Cholera und zur Impfpraxis (323). Diverse Interessen stießen hierbei aufeinander, zumal das RGA in ein "filigranes vertikales (Reich, Kommunen, Länder)", ein "horizontales (Vereine, Institutionen, Militär, Industrie) und ein personelles Netzwerk" eingebunden war (333). Dabei betont Hüntelmann die persönlichen Interessen der Akteure. Robert Koch habe beispielsweise mit seinem Bemühen um die Typhusbekämpfung keineswegs altruistisch gehandelt, sondern einen Ausweg aus seiner wissenschaftlichen Krise gesucht.
Ein wesentlicher Grund für den Aufbau des Reichsgesundheitsamtes waren nicht zuletzt die aus dem Ausland kommenden Bitten um medizinisches Datenmaterial, für deren Erhebung dem Kaiserlichen Statistischen Amt allein die Möglichkeiten fehlten. Es dauerte noch bis 1892, als die erste, fortan jährlich erscheinende Statistik publiziert wurde. Das Zahlenmaterial stellt heute für Medizin- und Sozialhistoriker eine wichtige Quelle dar. Über deren Problematik informiert Hüntelmann ausführlich und erinnert an die Gefahren nur scheinbar objektivierender Metrisierung. Umso schwerer wiegt sein Urteil, dass "das Gesundheitsamt auf dem Gebiet der Medizinalstatistik Pionierarbeit" geleistet habe (405). Tatsächlich wurden nun erstmals reichsweit Daten über Krankheiten, Todesursachen, Heilpersonal sowie Therapieerfolge erfasst und geordnet, so dass Perioden, Regionen und Alterskohorten verglichen werden konnten.
Hüntelmanns anspruchsvolle Kombination unterschiedlicher methodischer Ansätze macht zu einem wesentlichen Teil den Wert dieser Studie aus. Sie basiert nicht allein auf dem Bestand R 86 (Reichsgesundheitsamt) des Bundesarchivs, sondern auch auf der Auswertung zahlreicher weiterer Archivalien des In- und Auslands (Archiv des Institut Pasteur/Paris, Rockefeller Archive Center/Sleepy Hollow), zeitgenössischer Periodika und weit über 300 zeitgenössischer Publikationen. Das als gediegene Verlagsausgabe erschienene Buch ist mit mehreren aussagekräftigen Photos und hilfreichen Tabellen (unter anderem zur Entwicklung des Etats) angereichert. Eine rundum gelungene Institutionsgeschichte.
Ralf Forsbach