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Susanne Lachenicht: Diasporen. Einführung, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6 [15.06.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
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Diasporen

Einführung

Von Susanne Lachenicht

Mit seinen 1997 veröffentlichten Global Diasporas. An Introduction (Seattle) bezog der britische Soziologe Robin Cohen in der anhaltenden postmodernen Diskussion um Diasporen eine Position, die in den letzten Jahren auch die Geschichtswissenschaften in den USA, Kanada, Frankreich und Großbritannien, weniger in Deutschland, beeinflusst hat.

Cohen zufolge konstituieren sich Diasporen nicht ausschließlich aufgrund von Verfolgung oder Vertreibung ethnischer oder religiöser Gruppen. Als Diasporen wären, nach Cohen, durchaus auch Gruppen mit kollektiver Identität zu bezeichnen, die freiwillig die Heimat, das homeland, verlassen haben und die in der "Fremde" den Mythos der gemeinsamen Herkunft und Geschichte ebenso teilen, wie auch eine starke, identitätsstiftende Rückbindung an die (verlorene) Heimat (oder zumindest das, was die Gruppe für diese Heimat hält). Religion kann bei diesen Diasporen eine entscheidende Rolle inne haben; sie muss es aber nicht.

So gibt es, laut Cohen, neben "victim diasporas", wie der jüdischen oder armenischen, kulturelle Diasporen, wie die der Nachkommen afrikanischer Sklaven in der Karibik, die sich wiederum auch in den USA und Großbritannien konstituiert. [1] Ebenso würde Cohen die im Britischen Empire siedelnden Briten als Diaspora bezeichnen [2], wie auch Inder in Ostafrika, Ukrainer in Kanada [3] oder Kaufmannsdiasporen im Mittelmeerraum des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Weiteres wichtiges Merkmal einer Diaspora wäre demnach auch ihre Präsenz in unterschiedlichen Regionen der Welt und interregionale oder überstaatliche Netzwerke ihrer Mitglieder untereinander.

Was Cohen mit dieser Ausweitung des Diasporabegriffs erreicht, ist zweierlei: Zum einen zwingt er die historische Forschung, in der Konfessionsmigration Ursachen und Motive für Migration zu überdenken und über andere Motive, beispielsweise wirtschaftliche, als koexistent nachzudenken. Zum anderen fördert Cohens Ansatz die Frage nach der Vergleichbarkeit von Diasporaerfahrungen, nach historischen Modellen für die Aufnahme von Diasporagruppen, Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung, Integration und Assimilierung. Zu den großen Themen der vergleichenden Diasporaforschung gehört die Frage des Verhältnisses unterschiedlicher Diasporen untereinander bzw. die der Identitätsbildung. Identitäre Konstruktionen - beispielsweise definier(t)en sich sowohl die jüdische als auch die hugenottische Diaspora als von Gott auserwählte nations - gehören zu den typischen Phänomenen in der Herausbildung und Konservierung von Diasporen. Am Beispiel der Wahrnehmung von Juden durch Vertreter des hugenottischen Refuge vollzieht Myriam Yardeni in Huguenots et Juifs die Komplexität dieser Konstrukte nach (siehe die Rezension von Patrick Cabanel in diesem FORUM, ebenso Böhm zu Roosen).

Während sich die historische Forschung lange mit einzelnen Diasporen wie der der Sepharden oder der Ashkenazen [4], Hugenotten [5], Pietisten oder Böhmen [6], d.h. vor allem mit so genannter Konfessionsmigration (die als Forschungsgebiet Kongruenzen mit der Diasporaforschung aufweist), beschäftigt hat und dies, notwendigerweise, auch noch immer tut, hat die Diasporasoziologie den Blick auf Komparatistik und entangled histories in der geöffnet. Dies zeigt sich beispielsweise in einigen neueren Arbeiten zur jüdischen Diaspora, u.a. Jonathan Schorschs Jews and Blacks in the Early Modern World (New York 2004), Howard Wettsteins Diasporas and Exiles. Varieties of Jewish Identity (Berkeley 2002) oder Jeffrey M. Pecks Being Jewish in the New Germany (New Brunswick und London 2006).

Besonders stark vertreten sind in der neueren und neuesten Forschung Studien zur Diaspora afrikanischer Sklaven, wie neben vielen anderen Beispielen Paul Gilroys The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness (Cambridge 1993), Kristina Manns und Edna G. Bays (eds.) Rethinking the African Diaspora: The Making of a Black Atlantic World in the Bight of Benin and Brazil (London 2001), Ira Berlins Generations of Captivity: A History of African-American Slaves (Cambridge 2003), Alvin O. Thompsons Flight to Freedom: African Runaways and Maroons in the Americas (Mona 2006) und Michael A. Gomez' Reversing Sail: A History of the African Diaspora (Cambridge 2005) zeigen. Hier gliedert sich das in diesem FORUM von Ben Marsh besprochene Werk Stephanie E. Smallwoods Saltwater Slavery: A Middle Passage from Africa to American Diaspora ein (Cambridge 2007).

Dass die französisch- und englischsprachige Forschung Diasporen zu einem wichtigen Forschungsgegenstand gemacht hat, zeigen indes auch Forschungszentren wie das Laboratoire Diasporas an der Université de Toulouse II-Le Mirail, die im März 2009 gebildete Forschergruppe REDIA (= Réseau d'Études des Diasporas) mit Sitz an der EHESS, Paris, oder das vom britischen Arts and Humantities Research Council (AHRC) geförderte Programm Diasporas, Migration and Identities (http://www.diasporas.ac.uk/). Dazu kommen Zeitschriften wie Diasporas (Toronto) und Diasporas. Histoire et Société (Toulouse).

In Deutschland entstehen neuere Arbeiten zu nicht religiös motivierten Diasporen vor allem in der Außereuropäischen Geschichte (siehe beispielsweise eine der ersten deutschsprachigen Publikationen zum Schwarzen Atlantik: Jochen Meissner, Klaus Weber und Ulrich Mücke, Schwarzes Afrika. Eine Geschichte der Sklaverei, München 2008, oder die Jahrestagung des Arbeitskreises Außereuropäische Geschichte Migration und Diaspora (Münster 2007)).

Im Bereich der Konfessionsmigration hat sich in Deutschland in den letzten Jahren viel Neues getan (siehe auch die Anmerkungen), wie u.a. die Tagung des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz, Religion und Mobilität. Wechselwirkungen und Interdependenzen zwischen raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa deutlich gemacht hat (vgl. den von Thomas Weller und Henning P. Jürgens herausgegebenen Tagungsband, der Ende 2009 erscheinen soll). Hierzu gesellen sich auch zwei der in diesem FORUM rezensierten Arbeiten: Joachim Bahlcke / Rainer Bendel, Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive, Köln 2008 (rezensiert von Vera von der Osten-Sacken), und Franziska Roosen, Soutenir notre Église. Hugenottische Erziehungskonzepte und Bildungseinrichtungen im Berlin des 18. Jahrhunderts, Bad Karlshafen 2008 (rezensiert von Manuela Böhm). Aber auch aus dem amerikanischen Raum kommen weiterhin Beiträge zur Konfessionsmigration wie der von Mark Häberlein besprochene Band Aaron Spencer Foglemans Jesus is Female: Moravians and the Challenge of Radical Religion in Early America (Philadelphia 2007).

Komparatistische Diasporaforschung per se, die neben den "victim diasporas" auch Kaufmannsdiasporen, politische oder kulturelle Diasporen untersucht bzw. Motive und Wirkungen von so genannter Religionsmigration multiperspektivisch analysiert, ist jedoch noch rar, nicht nur in Deutschland. Dass dieses Forschungsdesiderat erkannt worden ist, machen einige neuere und neueste Sammelbände deutlich wie u.a. Dirk Hoerders, Christiane Harzigs und Adrian Shuberts (eds.) The Historical Practice of Diversity. Transcultural Interactions from the Early Modern Mediterranean to the Postcolonial World (New York, Oxford 2003), Mark Häberleins (Hrsg.), Kaufmannsdiasporen als globales Phänomen, 15.-19. Jh., Konstanz (erscheint 2009) (hervorgegangen aus dem von Prof. Mark Häberlein (Bamberg) organisierten Panel Kaufmannsdiasporen auf dem Historikertag in Dresden 2008), Kirsten Heinsohns und Susanne Lachenichts Diaspora Identities. Exile, Nationalism and Cosmopolitanism in Past and Present (Frankfurt/Main, New York, erscheint 2009) oder Susanne Lachenichts Religious Refugees in Europe, Asia and North America, 6th -21th century (Hamburg 2007) (Rezension: http://www.sehepunkte.de/2007/11/13668.html).


Anmerkungen:
[1] Siehe u.a. Ruben Gowricharn (ed.): Caribbean Transnationalism: Migration, Pluralization, and Social Cohesion, Lanham 2006.
[2] Siehe beispielsweise David Lambert / Alan Lester (eds.): Colonial Lives Across the British Empire: Imperial Careering in the Long Nineteenth Century, Cambridge 2006 (Rezension: http://www.sehepunkte.de/2007/07/11376.html).
[3] Siehe Vadim Kukushin: From Peasants to Labourers: Ukrainian and Belarusan Immigration from the Russian Empire to Canada, Montreal 2007.
[4] Siehe u.a. Jonathan I. Israel: Diasporas within a Diaspora: Jews, Crypto-Jews and the World Maritime Empires, 1540-1740, Leiden 2002; David Cesarini (ed.): Port Jews: Jewish Communities in Cosmopolitan Martime Trading Centres, 1550-1950, London / Portland 2002.
[5] Siehe u.a. Bertrand Van Ruymbeke und Randy Sparks (eds.): Memory and Identity. The Huguenots in France and the Atlantic Diaspora, Columbia/SC 2003; Bertrand Van Ruymbeke: From New Babylon to Eden. The Huguenots and their Migration to Colonial South Carolina, Columbia/SC 2005 (Rezension: http://www.sehepunkte.de/2007/11/12954.html); Matthias Asche: Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbewältigung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Münster 2006 (Rezension: http://www.sehepunkte.de/2007/11/11685.html); Guido Braun und Susanne Lachenicht (Hgg.): Les États allemands et les huguenots. Politique d'immigration et processus d'intégration, München 2007 (Rezension: http://www.sehepunkte.de/2008/05/12512.html), oder Ulrich Niggemann: Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681-1697), Köln / Weimar / Wien 2008 (Rezension: http://www.sehepunkte.de/2009/02/14782.html).
[6] Alexander Schunka: Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Münster / Hamburg / Berlin / London 2006 (Rezension: http://www.sehepunkte.de/2007/11/12099.html).

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