Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte (= Grundkurs Neue Geschichte), Stuttgart: UTB 2007, 192 S., ISBN 978-3-8252-2866-8, EUR 14,90
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"Wer die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise. Wer die Enge seiner Zeit ermessen will, studiere Geschichte." Und wer sich für die Geschichte des Tourismus interessiert, möchte man Kurt Tucholsky ergänzen, der lese das hier besprochene Werk aus der Feder von Rüdiger Hachtmann, Mitarbeiter am Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschung in Potsdam, der in der Reihe "Grundkurs Neue Geschichte" einen Überblick über das Thema und seine Erforschung vorgelegt hat. Zeitlich, geografisch und inhaltlich spannt Hachtmann einen weiten Bogen: Seine Darstellung reicht von der Antike bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts und umfasst so unterschiedliche Phänomene wie die "Sommerfrische" der römischen Aristokratie, mittelalterliche Pilgerreisen, den europäischen "Revolutionstourismus" nach dem Sturm auf die Pariser Bastille, den britischen Bäderurlaub des 19. Jahrhunderts und die touristische Vereinnahmung der "Volksgemeinschaft" durch das nationalsozialistische Regime.
Trotz dieser Bandbreite läuft Hachtmann an keiner Stelle Gefahr, die unterschiedlichen Formen des Reisens über einen Kamm zu scheren. Im Gegenteil, es gelingt dem Autor, überzeugend herauszuarbeiten, dass von einem echten Tourismus letztlich erst seit etwa 1800 die Rede sein kann. Erst mit der Aufklärung und der Formierung des modernen Bürgertums wurde Reisen zum Selbstzweck, zur Suche nach Abwechslung vom Alltag. Besonders hervorzuheben ist, dass Hachtmann dem Leser selbst die großen und bisweilen sperrigen historischen Themen wie Modernisierung, Ständestaat oder Bürgertum auf ausgesprochen anschauliche Weise nahezubringen vermag. Das Buch wird damit dem Anspruch der Reihe, Studierende an Leitfragen und Grundkategorien des Fachs heranzuführen, voll gerecht.
Ein weiterer großer Pluspunkt ist, dass Hachtmann nicht vor eindeutiger Kritik an allzu vereinfachenden Konsumthesen zurückschreckt, die manche historische Darstellung zum Tourismus heute leiten. So warnt er davor, den Tourismus in Anschluss an Pierre Bourdieu vorschnell als Trickle-Down-Phänomen zu kennzeichnen, das sich erst in den höheren und mittleren Schichten ausbildete, ehe es sich nach unten verbreiterte. Solchen Thesen stellt der Autor souverän die Tatsache entgegen, dass sich zeitgleich zur bürgerlichen Sommerfrische proletarische Formen der Wochenenderholung im Grünen herausbildeten. Auch die Annahme, die sich zu Ende der 1950er Jahre etablierende Tourismusindustrie und der damit einsetzende Massentourismus hätten für ein immer stärker normiertes Erleben von Land und Leuten gesorgt, widerlegt Hachtmann überzeugend. Die viel gescholtenen "Neckermannreisen" machten nämlich immer nur einen kleinen Teil des Reiseaufkommens aus; im gesamten 20. Jahrhundert herrschte mit weitem Abstand der Individualurlaub vor. Hachtmann beweist insgesamt für bestehende Unterschiede und Ungleichheiten große Sensibilität: Etwa für den jahrzehntelangen Ausschluss von Frauen vom Alpinsport oder für die sich nach der Einführung von "Hartz IV" dramatisch verschlechternden Aussichten für Arbeitslose, überhaupt noch irgendeine Form von Urlaub machen zu können und damit teilzuhaben am Konsum als einem konstitutiven Element unserer Gesellschaft.
Zu kritisieren gibt es an Hachtmanns Buch nur wenig. Schade ist etwa, dass die Bundesrepublik als Ziel ausländischer Touristen gänzlich außer Acht gelassen wurde, obwohl sich das Land einer stetig steigenden Zahl von Gästen erfreut und hierzu bereits erste historische Studien vorliegen. [1] Das Thema ist deswegen so interessant, weil das Bild von (West-)Deutschland im Ausland wohl vor allem über das eigene persönliche Erleben eine Prüfung erfuhr und sich nationale Stereotype dadurch am ehesten abschliffen.
Hachtmann hätte darüber hinaus die Zäsur, die allem Anschein nach die 1960er Jahre für den Tourismus darstellten, noch stärker herausstreichen und dies bereits in der Gliederung zum Ausdruck bringen können. Bei der Lektüre fällt gleich an mehreren Stellen auf, wie sehr der tief greifende kulturelle, wirtschaftliche und soziale Umbruch jener Zeit auch auf das Reiseverhalten zurückwirkte. Hachtmann stellt selbst heraus, dass es erst um 1960 zu einer sozialen und geografischen Entgrenzung des Tourismus kam. Immer mehr Arbeiter konnten sich Urlaubsreisen leisten und bald machten deutlich mehr Westdeutsche in Italien, Spanien und Österreich Ferien als im eigenen Land.
Das sind aber nur marginale Einwände gegen eine konzise Übersicht zur Geschichte des Tourismus, die zudem noch durch ihre sprachliche Klarheit und Präzision besticht. Der bekannte Ausspruch von Matthias Claudius jedenfalls "Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen" ist im Hinblick auf diese gelungene Geschichte des Tourismus voll zu unterstreichen.
Anmerkung:
[1] Beispielhaft: Alessandra Ferretti: Un viaggio lungo un secolo. Il turismo italiano in Germania, in: Italiani in Germania tra Ottocento e Novecento. Spostamenti, rapporti, immaginazioni, influenze, a cura di Gustavo Corni / Christof Dipper, Bologna 2006, 521-544.
Patrick Bernhard