Ingrid Baumgärtner / Hartmut Kugler (Hgg.): Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Konzepte (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters; Bd. 10), Berlin: Akademie Verlag 2008, 330 S., ISBN 978-3-05-004465-1, EUR 69,80
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Angesichts der zahlreichen Publikationen (auch im Bereich der Mediävistik), die den Verweis auf Europa im Titel führen, fällt die Entwicklung eines originellen Zugangs zu diesem Thema nicht leicht. Gerade aus der Sicht der Kartographie, die im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht, war ein solcher Innovationsschub nicht unbedingt zu erwarten, schien doch alles Grundsätzliche mit einem Beitrag Anna-Dorothees von den Brincken von 1973 bereits gesagt.[1] Zwar war der dritte Erdteil unabdingbarer Bestandteil in der Tradition der mittelalterlichen "mappae mundi". Zum eigenständigen Objekt der Darstellung wurde er aber kaum, mit Ausnahme der Karte im "Liber floridus" des Lambert von St. Omer und einer weniger bekannten Darstellung durch Giraldus Cambrensis.
Umso gespannter durfte man auf die vorliegenden Beiträge sein, die auf eine Tagung im Juni 2006 zurückgehen. In vier Abteilungen ("Repräsentationen", "Europa und der Orient", "Grenzziehungen und Grenzerfahrungen" und "Paradigmen") widmen sie sich in breiter Streuung der Frage nach der Darstellung und der Sinnaufladung des Erdteils, wobei die Themenwahl, wie auch die konzise Einführung durch I. Baumgärtner deutlich macht (9-28), ihre Verankerung in der Gegenwart nicht verleugnen kann. Tatsächlich eröffnet der Blick auf die Karten als Medium der Wissensspeicherung und der Weltkonstruktion aber neue Perspektiven (zum "cartographical turn" s. die Einleitung, 17-19), welche es erlauben, die Erkenntnisse der bislang stark textzentrierten Zugriffe zu erweitern.
Im Anschluss an A. Stückelbergers Darstellung des "Europabilds bei Ptolemaios" (31-44), die eine Brücke von der Spätantike zur Renaissance schlägt, folgt mit H. Kuglers Analyse der Lambert-Karte schon der eindrückliche Beleg für die Fruchtbarkeit eines neuen Blicks auf die Karten (45-61): Die (fast) unikale Europa-Darstellung des Genter Codex stilisiert den Erdteil zur Form einer Hand und gibt ihm damit eine Gestalt, die mnemotechnischen Prinzipien gehorcht. Der frappierend einleuchtende Ansatz dürfte wohl unbestritten bleiben - mehr Anlass zur Diskussion wird dagegen Kuglers Andeutung geben, die Hand könne die "dextera Domini" darstellen, die sich hier in den offensiven Zusammenhang der siegreichen Kreuzzugsbewegung einfüge (57-59).
Auch die folgenden Beiträge warten mit wichtigen Neubewertungen auf: So räumt P. Gautier Dalchés Untersuchung geographisch ausgerichteter Texte (63-79) entschlossen mit der Vorstellung auf, der Europa-Begriff sei nach der Ottonenzeit zu einem "rein geographischen" Terminus verflacht. Vielmehr lassen sich in Karten wie in Texten ab dem 12. Jahrhundert in dichter Folge Sinndimensionen aufzeigen, die auf kulturelle Aufladungen hinweisen. Die quantitative Ausweitung des Horizonts, die mit der Erschließung des Nordens und des Ostens des Erdteils einhergeht, ergänzt dabei die qualitative Modellierung im Sinne des Christentums oder der Klimatentheorie, mit der zahlreiche Autoren eine Sonderstellung Europas behaupteten. Eine religiöse Konnotation erhielt Europa schon durch seine Stellung innerhalb des gesamten Schöpfungswerks, wie I. Baumgärtner mit Blick auf die Tradition der Beatus-Karten sowie der Ranulf Hidgen-Karten deutlich macht (81-132). Die theologisch fundierte Anlage konnte sich dabei aber auch dem Einfluss empirischer Beobachtungen öffnen und zuweilen Europa als Teil einer "neuartig laisierte[n] Welt" wiedergeben (128).
Auch auf dieser Grundlage wird man aber keine allzu große Bedeutung "Europas" für die Kulturen des Mittelalters behaupten wollen, wie gerade die Beiträge zu "Europa und der Orient" verdeutlichen. Im Gegensatz zum Heiligen Land existierte auch im späten Mittelalter keine Tradition eigenständiger Kartendarstellungen Europas (P.A.D. Harvey, 135-142) und im arabischen "Book of Curiosities" des 11. Jahrhunderts (A. Kaplony, 143-156) gewann die "Insel Europa" nur dort an Interesse, wo sie mehr oder minder eng an die islamische Welt grenzte. Dass dabei Transfers geographischen Wissens zwischen den kulturellen Sphären zwar stattfanden, aber nicht immer glückten, zeigt A.-D. von den Brincken am Beispiel einer "stummen Weltkarte" vom Beginn des 14. Jahrhunderts (157-170), die in einem in Oxford aufbewahrten Codex zu finden ist: Der Maler kopierte eine arabische Vorlage, deren Legenden er aber aufgrund seiner Unkenntnis der Schrift nicht mit übertrug.
Die folgenden Beiträge analysieren die Bedeutung von Grenzen für die Konstruktion der Erdteile und deren Bewusstwerdung: E. Edson widmet sich der nordöstlichen Grenze Europas, die erst mit dem zunehmenden Wissen über diese Regionen problematisch wurde (173-189), da nun Empirie und Tradition in Konflikt geraten konnten. V.a. Fra Mauro propagierte im 15. Jahrhundert eine Verschiebung der Grenze in den Osten des Dons, tat dies aber in vorsichtiger Auseinandersetzung mit den etablierten Positionen (186-188; vgl. auch den Beitrag von A. Gow, 259-267). Aufbauend auf die Tradition konnte also Neues integriert werden, konnten Karten zu neuartigen Zwecken genutzt werden. Dies belegt die bildliche Fixierung religiöser Verhältnisse, die P. Licini am Beispiel einer in Iesi aufbewahrten Portolankarte vorführt (191-218), welche sie überzeugend mit dem Umfeld der Kreuzzugsplanungen Papst Pius' II. in Verbindung bringt. Grenzen sind eben nicht nur als geographische, sondern vor allem auch als kulturelle Größen zu verstehen, wie S. Schröder mit Blick auf die Grenzerfahrungen in Reiseberichten unterstreicht (219-237). Auf der Basis von Felix Fabris "Evagatorium" führt er vor, wie geographische Grenzsituationen zwar vermerkt wurden, sie ihre eigentliche Bedeutung aber erst durch kulturelle Faktoren (Sprache, Sitten, Religion) gewannen (227-230). Zugleich macht Schröder den Einfluss traditioneller Wissensbestände deutlich, deren "Grenzziehung im Kopf" häufig die empirischen Beobachtungen an Bedeutung überstieg und die Wahrnehmung leitete. Dabei wurde Europa nicht schlicht mit dem Raum des "Normalen" gleichgesetzt, dem ein "mirakulöses" Asien oder Afrika gegenüberstand, wie M. Hoogvliet in ihrer Darstellung der "Wonders of Europe" zeigt (239-255). Die Zeitgenossen kannten auch innerhalb Europas "wundersame" Gegenstände, wobei allerdings die periphere Lage vieler der vorgestellten Beispiele ebenso ins Auge fällt wie deren häufig "naturkundlicher" Zuschnitt, so dass hier weitere Untersuchungen wünschbar und nötig erscheinen.
Unter der Rubrik "Paradigmen" weist A. Gow am Beispiel Fra Mauros auf den ideologischen Charakter der Europa-Bilder hin (259-267) und schließt anhand der Dichotomie von Zentrum und Peripherie an die vorangegangene Grenzdiskussion ebenso an wie an moderne Befindlichkeiten: Problematisch wurde und wird die Zugehörigkeit zu Europa eben vor allem am Rande, in Übergangszonen. Dass sogar die häufig so nüchternen Portolankarten des späten Mittelalters ideologische Instrumente darstellten, deren praktischer Nutzen kaum dokumentiert, ja durch empirische Untersuchungen sogar teilweise verneint werden kann, zeigt P. Falchetta (269-276). In dieser Hinsicht unterscheiden sich die einem religiösen Weltbild verpflichteten "mappae mundi" eben nicht radikal von den präziser wirkenden Kartenbildern der Neuzeit, wie M. Stercken abschließend am Beispiel Albrechts von Bonstetten und Konrad Türsts demonstriert (277-300), die am Ende des 15. Jahrhunderts in ihren Beschreibungen der Eidgenossenschaft auf ganz unterschiedliche Weise zur Identitätsstiftung des neuen staatlichen Gebildes beitrugen.
Zwei Register (Orts-, Namen- und Sachregister; Autoren der modernen Forschungsliteratur) schließen den Band ab, der trotz kleiner Schwächen in der praktischen Umsetzung [2] wichtige Anregungen für den Dialog zwischen Geschichte, Literatur und Kartographie bietet. Die Inspiration bezieht sich dabei nicht immer unbedingt auf die im Titel so prominent stehende Größe "Europa", da sich die Autorinnen und Autoren in durchaus unterschiedlichem Ausmaß auf die thematische Fokussierung eingelassen haben. An mancher Stelle wird dem Leser die abschließende "Verbeugung" vor diesem heute so wichtigen Konzept sogar überflüssig erscheinen, da die jeweiligen Beiträge zum Teil auf hohem Niveau auch ohne diese Kategorie gut zurechtgekommen sind. Alle Texte aber führen vor, wie die Lektüre und die Interpretation häufig bereits bekannter Materialien unter neuen Gesichtspunkten beeindruckend neue Einsichten bereithalten können.
Anmerkungen:
[1] Anna-Dorothee von den Brincken: Europa in der Kartographie des Mittelalters, in: AKG 55 (1973), 289-304; jetzt wieder abgedruckt in: dies.: Studien zur Universalkartographie des Mittelalters, hg. v. Thomas Szabó, Göttingen 2008. (VMPG 229), 149-164.
[2] Nicht alle Illustrationen sind qualitativ zufriedenstellend, vgl. etwa 47, 50 und 192; im Beitrag von Hoogvliet wurden die Abbildungen vertauscht (249-252). Unsicherheiten erscheinen im Register, das zum Teil unzutreffende Informationen bietet (s.v. "Descriptio Europae Orientalis": Verweis auf Seite 295, hier ist die Rede von der "Descriptio Superioris Germanie Confoederationis" des Albrecht von Bonstetten) und nicht hinreichend vereinheitlicht wurde. So ist etwa nicht einzusehen, weshalb fünf Lemmata "Asowsches Meer", "Azov Sea", "Maeotische Sümpfe", "Paludes Meotides" und "Palus Maeotis" mit jeweils differierenden Seitenangaben aufgenommen wurden.
Klaus Oschema