Elizabeth Irwin: Solon and Early Greek Poetry. The Politics of Exhortation (= Cambridge Classical Studies), Cambridge: Cambridge University Press 2005, xiii + 350 S., ISBN 978-0-521-85178-7, GBP 55,00
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Klaus Geus / Elizabeth Irwin / Thomas Poiss (Hgg.): Herodots Wege des Erzählens. Topos und Logos in den Historien, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2013
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Den Elegien Solons gebührt ein prominenter Platz innerhalb der für die archaische Zeit zur Verfügung stehenden Quellen. Mit ihnen rückt die Geschichte Athens in den Mittelpunkt der althistorischen Forschung, da mit Solons Reformen wichtige Grundlagen der späteren attischen Demokratie gelegt wurden und seine Gedichte Rückschlüsse auf die Zielsetzung seiner Reformen und eine Reflexion der historischen Situation zulassen. In den letzten Jahren wurde Solon wieder starke Aufmerksamkeit gewidmet. Davon zeugen neue mit Übersetzung und Kommentar versehene Neuausgaben der solonischen Elegien und Iamben durch M. Noussia (2001) und Chr. Mülke (2002), ein umfangreicher von J. Blok und A. Lardinois herausgegebener Sammelband zu literarischer Überlieferung, Reformen und Gesetzen Solons (2006), ein von J. D. Lewis publiziertes Buch über "Solon the Thinker. Political Thought in Archaic Athens" (2008) und eine von L. Burckhardt, K. Seybold und J. von Ungern-Sternberg herausgegebene Untersuchung zum Problem, inwieweit die Gesetzgebungen in Griechenland durch die Kulturen im Nahen Osten beeinflusst waren (2007).
E. Irwin folgt in ihrer Untersuchung einem vor allem in der Klassischen Philologie auf fruchtbaren Boden gefallenen 'cultural' und 'linguistic turn'. Sie wertet Solons Elegien als Reflexionen archaischer politischer Kultur, als Repräsentationen des Politischen. Da die frühgriechische Lyrik nur fragmentarisch erhalten ist, komme eine Interpretation nicht ohne eine Kontextualisierung aus, die nicht selten durch feste Vorstellungen und tradierte Forschungsmeinungen bestimmt werden. Würden die Fragmente als Bestätigung dieser Konstrukte herangezogen, könne dies zu Zirkelschlüssen führen. Daher will Irwin die Elegien unvoreingenommen prüfen und wendet sich einer sprachlichen Analyse zu, um so den Stellenwert von archaischer Dichtung in der Wirkung auf die politische Kultur zu bestimmen. Sie wertet die Kriegslieder des Tyrtaios und Kallinos und die Elegien Solons als zeitgenössische poetische Repräsentationen des Politischen aus, bei denen durch genaue Analyse einer Intertextualität ein innerpoetischer Diskurs rekonstruiert werden kann.
Im ersten Teil werden die intertextuellen Bezüge in den Kriegsliedern von Tyrtaios und Kallinos und den homerischen Epen analysiert. Beide elegischen Dichter greifen die Mahnungen an kriegerische Tapferkeit aus den Epen auf, doch der performative Kontext hat sich durch den Vortrag beim Symposion grundlegend verändert. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht eine minutiöse Untersuchung des solonischen Eunomiegedichts (fr. 4 West). Irwin weist in diesem Teil nach, dass Solons Konzept einer Eunomia zwar auf das des Tyrtaios antwortet, er sich aber von den kriegerischen poetischen Traditionen der Ilias und der Kriegslieder abkehrt, indem er seine Appelle auf die drohende Gefahr eines inneren Krieges richtet. Die intertextuellen Bezüge lassen sich als radikale Umdeutungen von bestimmten Motiven fassen. Damit wendet sich Solon in einem innerpoetischen Diskurs gegen die Werte eines heroischen Kampfes im Krieg, fordert stattdessen zivische Werte, um die schwere innere Krise Athens bewältigen zu können. Die Abkehr von heroischen Kampfparänesen geht einher mit einer stärkeren Ausrichtung auf die Dichtungen eines Hesiod. Dessen Konzept einer von den Göttern geforderten Gerechtigkeit stehe Solon positiv gegenüber. Mit der gegenüber seinen Mitbürgern nachdrücklich vertretenen Ausfassung, nicht die Götter brächten Unheil über die Stadt, sondern die Athener selbst seien für die gegenwärtige Krise verantwortlich, greife Solon auf Gedanken zurück, die bereits in der Odyssee in ähnlicher Art formuliert sind (Od. 1,32-43). Irwin geht es also nicht darum, historische Ereignisse oder die sozialen und wirtschaftlichen Krisensymptome aus den Gedichten heraus zu rekonstruieren, sondern um Solons konstruktive Auseinandersetzung in einem innerpoetischen Diskurs. Methodisch geht sie dabei umsichtig vor, untersucht die Lexik, verfolgt einzelne Motive, bezieht die Kontexte ein, rechnet aber auch mit Bedeutungsverschiebungen oder Mehrdeutigkeiten von Begriffen. Insgesamt zeigt sich, wie eng verwoben Solon mit der literarischen Tradition ist und welche Bedeutung Poetik als Reflexion der politischen Situation spielt.
Im dritten Teil geht Irwin auf das Verhältnis Solons zur Tyrannis ein, wobei weitere Gedichte Solons einbezogen werden. An einigen Schlüsselbegriffen, wie der Verbindung von Recht und Gewalt (díke und bía) oder der Zuschreibung von homerischen Ehrkonzepten an den démos, ließen sich zahlreiche sprachliche Reflexe eines tyrannischen Diskurses nachweisen, eine enge Nähe zu Vorstellungen, wie sie den Tyrannen zugeschrieben werden. Daraus leitet Irwin die Notwendigkeit ab, die politische Karriere Solons neu zu bewerten. Mehrfach habe Solon in seinen Gedichten zum Ausdruck gebracht, dass er die sich ihm bietende Gelegenheit, eine Tyrannis zu etablieren, ausgeschlagen habe. Diese Beteuerungen können auch als Versuch gelesen werden, das Bild der Nachwelt zu prägen. Solon habe als Reformer und Gesetzgeber in die Geschichte eingehen wollen und daher eine antityrannische Haltung propagiert. Die Grenzen zwischen einem Gesetzgeber, einem Weisen und einem Tyrannen waren in dieser Zeit fließend, und auch der heutigen Forschung fällt es nicht leicht, zwischen Tyrannen und Gesetzgebern scharf zu trennen. Dass erst durch die spätere Überlieferung und die heutige Forschung der Gegensatz zwischen einem positiv bewerteten Reformer Solon und einem negativ bewerteten Tyrannen Peisistratos schärfer in Erscheinung tritt, sei historisch nicht angemessen, da es zahlreiche Gemeinsamkeiten in Solons und Peisistratos' Karrieren gebe. Diesen geht Irwin in ihrem letzten Kapitel nach, wobei sie auf etwas versteckte Überlieferungselemente verweist, so die angebliche Verwandtschaft und homoerotische Beziehung zwischen beiden, die Auszeichnung beider im Krieg gegen Megara, die Zuschreibung von Gesetzen an Solon wie an Peisistratos oder die angebliche Interpolation von Il. 2,557f. in den Schiffskatalog.
E. Irwin hat einen wichtigen Beitrag für die Interpretation der solonische Elegien und zur politischen Kultur der archaischen Zeit geleistet, indem sie die intertextuellen Bezüge zwischen solonischen Elegien, den Kriegsliedern des Tyrtaios und Kallinos und der epischen Tradition aufzeigt. Die solonischen Elegien dürfen nicht nur in einem historischen Kontext ausgewertet werden, sondern stehen in einem innerpoetischen Diskurs. Diese Ergebnisse sind z.B. für die Frage, inwieweit die Reformen, die Gesetzgebung und die politische Kultur im archaischen Griechenland durch nahöstliche Kulturen beeinflusst sind, von Bedeutung und in diesem Kontext bisher von althistorischer Seite zu wenig diskutiert. Auch wenn Solon in manchen Aspekten einer Tyrannis nahe stand, scheint mir E. Irwin in ihrem letzten Kapitel allerdings zu weit zu gehen. Dass eine Abgrenzung von Tyrannen und Gesetzgebern der althistorischen Forschung nicht leicht fällt, ist ein lange bekanntes Problem. Solon aber in enge Nähe zum Tyrannen Peisistratos zu stellen, würde bedeuten, viele durch die Quellen überlieferte Aspekte auszuklammern, so Peisistratos' Einnahme Athens durch einen regelrechten Kriegszug, die Zuweisung einer Leibwache oder die Übertragung der Herrschaft an seine Söhne. Auch die Zuweisung von Gesetzen sowohl an Solon als auch an Peisistratos kann nicht ohne weiteres als Indiz für eine in der antiken Überlieferung angelegte Nähe von Gesetzgeber und Tyrann gewertet werden. Solons Gesetz gegen Untätigkeit (argía) ist ein auf die Sicherstellung der bäuerlichen Höfe ausgerichtetes Gesetz gewesen, wie der Vergleich mit Hesiods Werken und Tagen zeigt. Dass Peisistratos durch ein solches Gesetz ein Unruhepotenzial beschäftigungsloser Personen aus der Stadt Athen habe verweisen wollen, ist eine antityrannische Umdeutung, die einer Tyrannentopik folgt. Die Rechtfertigung Solons, er habe keine Tyrannis angestrebt, sollte also doch ernster genommen werden.
Winfried Schmitz