Herman J. Selderhuis (Hg.): Calvin Handbuch, Tübingen: Mohr Siebeck 2008, XI + 569 S., ISBN 978-3-16-149791-9, EUR 39,00
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Pünktlich zum 'Calvinjubeljahr' erschien 2008 in der von Albrecht Beutel betreuten Reihe der Theologenhandbücher im Verlag Mohr-Siebeck das von Herman J. Selderhuis herausgegebene "Calvin Handbuch". Im Konzept folgt es dem 2005 erschienenen "Luther Handbuch". Gegliedert ist es in vier Teile: Orientierung, Person, Werk sowie Wirkung und Rezeption. Das Quellen- und Literaturverzeichnis erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern enthält nur die in Beiträgen des Handbuchs benutzte Literatur. Die Internationalität des Calvinismus spiegelt sich in der Liste der Autoren. Darunter befinden sich altbekannte Heroen der Calvinforschung wie Robert M. Kingdon, Wilhelm Neuser oder Irena Backus. Aber erfrischend wirkt die zahlenmäßig starke Beteiligung der jüngeren Forschergeneration.
Man kommt natürlich um dieses Handbuch nicht herum, wenn man sich künftig zu Calvin äußern will. Positiv fällt ins Auge, dass im zweiten Teil unter dem Titel "Person" nicht nur die Biografie Calvins abgehandelt wird, sondern ausführlich die Beziehungen des Genfer Reformators zu den unterschiedlichen europäischen Territorien je für sich dargestellt werden: Zu Wittenberg, Straßburg und Rom, zur Eidgenossenschaft und so fort. Auch auf die theologischen Verhältnisse wird gesondert eingegangen. Calvins Verhältnis zu den Kirchenvätern und den zeitgenössischen Humanisten kommt ebenso zur Sprache wie das zu den Juden, den Täufern und den Gegnern, wobei man hinzufügen mag, dass die Juden und Täufer natürlich ebenso seine Gegner waren wie die Romtreuen. Was sein Werk betrifft, so wird es nach einem Überblick über die verschiedenen Gattungen, in denen Calvin aktiv gewesen ist - von Predigten über Kommentare bis hin zu den Katechismen und zahlreichen Briefen - nach Themen erschlossen. Deren Liste liest sich wie das Inhaltsverzeichnis eines Dogmatikkompendiums. Unter dem Stichwort "Wirkung und Rezeption" findet sich zunächst die Ausstrahlung Calvins in verschiedene Gebiete, sei es das Recht, die Liturgie, die Kunst oder die Bildung, sei es die Politik, die Wissenschaft und die Familie. Den Abschluss bildet die Übersicht über die Rezeption, und zwar zunächst historisch vom Zeitalter der reformierten Orthodoxie bis ins 20. Jahrhundert und dann geografisch in den verschiedenen außereuropäischen Kontinenten.
Dem deutschen Bildungsbürger kommt bei dem Namen "Calvin" Stefan Zweigs historischer Roman "Castellio gegen Calvin" in den Sinn mit dem bezeichnenden Untertitel "Ein Gewissen gegen die Gewalt". Bis heute ist das Calvinbild getrübt durch die Hinrichtung des Antitrinitariers Servet, die Zweig 1936 veranlasste, Calvin in die Nähe Hitlers zu rücken. Vieles davon geht zwar auf das Konto der damals beliebten Gattung des historischen Romans, verführt aber dazu, die historische Gestalt Calvins mit der fiktiven Romanfigur zu identifizieren. Selderhuis rückt da legitimerweise gleich eingangs einiges an den negativen Calvinbildern zurecht (2-6). Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass der Genfer Reformator nicht gerade zimperlich mit seinen Gegnern umging. Man muss dazu nur die entsprechenden Ausführungen über Calvin und die Täufer sowie seine zahlreichen sonstigen Gegner - Pighius, Bolsec, Castellio, Curione und Servet - lesen (147-164). Calvin war ein streitbarer, kühler Polemiker, dem es sowohl in der theologischen Lehre als auch in der Politik um die Durchsetzung seiner eigenen Position ging. Wo seine Lehre von der Trinität oder Prädestination angegriffen wurde, scheute er den Konflikt ebenso wenig wie bei der Durchsetzung seiner eigenen Vorstellung von Kirchenzucht, die das Verhältnis von Magistrat und Konsistorium berührte. Wie zäh Calvin um seine Kirchenordnung rang, die erst nach der Niederschlagung der Perrinisten, seiner Gegner im Rat, 1555 endgültige Anerkennung fand, macht der vorzügliche Beitrag von William G. Naphy über Calvins zweiten Aufenthalt in Genf deutlich (44-57). Der neugierige Leser, der sich für Themen interessiert, die mit der Kirchenordnung in enger Verbindung stehen, kann sich in den Artikeln "Ethik und Kirchenzucht" (326-338), "Kirche und Obrigkeit" (349-355), "Recht und Kirchenrecht" (392-401) und "Politik und soziales Leben" (431-442) weiter informieren. Er wird dabei zugleich einen Eindruck gewinnen von der unterschiedlichen Vorgehensweise der Autoren. Während der Artikel über die Kirchenzucht völlig binnentheologisch bleibt, liefert Robert M. Kingdon in seinem knappen, aber pointierten Beitrag über das Verhältnis von Kirche und Obrigkeit einen Überblick über die konkreten Auswirkungen der ekklesiologischen und politischen Vorstellungen Calvins in Genf und über Genf hinaus. Christoph Strohm macht dabei in seinen Ausführungen über das Recht deutlich, dass der Unterschied zwischen Calvinisten und Lutheranern in der Frage des Widerstandsrechts vielfach überbewertet worden sei.
Es bleibt bei der Art der Anlage des Handbuchs nicht aus, dass, was bereits unter "Person" verhandelt wurde, unter "Werk" oder "Wirkung" erneut zur Sprache kommt. Das ist zwar manchmal lästig, eröffnet aber hier und da auch neue Perspektiven, was ja ohnehin der Vorteil eines Handbuches mit Beiträgen aus vielen Federn ist. Genf wurde durch Calvin nach dessen Einigung mit Bullinger und dem Bruch mit den Lutheranern, der zunächst nur die Abendmahlsfrage und Christologie betraf, zum Ausgangspunkt einer eigenen Konfession mit internationaler Ausstrahlung. Die Kapitel über die Beziehungen Calvins zu den verschiedenen europäischen Territorien (57-126) sind daher von besonderem Interesse. Sie geben einen Eindruck von dem weitgespannten Netzwerk, das Calvin vor allem mit seiner Korrespondenz aufbaute, von Frankreich über die Niederlande, Polen-Litauen und Ungarn bis hin zu den Britischen Inseln.
Man tut dem Herausgeber und vielen der Autoren nicht Unrecht mit der Behauptung, dass das Handbuch bei aller Nüchternheit auch ein apologetisches Interesse verfolgt. Calvin soll als Persönlichkeit, Theologe und Kirchenorganisator von dem Odium befreit werden, ein düsterer Tyrann gewesen zu sein, wie es Zweigs Roman suggeriert. Dadurch wird er aber weder zu einem Verfechter der Menschenrechte noch zu einem Vorläufer der Demokratie. Das Wort vom "Terror der Tugend" behält schon seine Berechtigung, wenn man sich Calvins Wirken in Genf anschaut, zumal dann, wenn man seine Vision des Christentums mit anderen zeitgenössischen Konzeptionen, etwa derjenigen Castellios, vergleicht. Es wundert daher auch nicht, dass die Aufklärung mit Calvin nichts mehr anzufangen wusste. Wenn man das Kapitel über die "Calvinrezeption im 18. Jahrhundert" (474-480) aufschlägt, begegnet man den vorurteilsgeladenen Volten Jeffersons gegen den Genfer Reformator ebenso wie dem berühmten Artikel "Genève", den d'Alembert für die "Encyclopédie" verfasste und in dem er der Genfer Compagnie des Pasteurs dazu gratulierte, keine Anhängerin Calvins mehr zu sein. Erst mit Schleiermacher begann eine neue Würdigung Calvins, die sich dann bei seinen Schülern fortsetzte (480f.). Gerade auf dem Hintergrund des dadurch geprägten Bildes vom Calvinismus, unter dessen Einfluss sie standen, ist es seltsam, dass das Handbuch nur an vier Stellen im Vorbeigehen jene Autoren erwähnt, die das Modernitätspotenzial der von Calvins Genf ausgehenden Konfession am stärksten betont haben: Max Weber und Ernst Troeltsch. Doch sieht man einmal von dieser Fehlanzeige ab, so sei jedem, der einen unpathetischen Blick auf den Genfer Reformator werfen möchte, die Lektüre des "Calvin Handbuch" nur empfohlen.
Jan Rohls