Cordelia Heß: Heilige machen im spätmittelalterlichen Ostseeraum. Die Kanonisationsprozesse von Birgitta von Schweden, Nikolaus von Linköping und Dorothea von Montau (= Europa im Mittelalter; Bd. 11), Berlin: Akademie Verlag 2008, 395 S., ISBN 978-3-05-004514-6, EUR 69,80
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Die Leitfragen dieser Hamburger Dissertation beziehen sich auf das Spannungsfeld von Heiligenverehrung und Politik, das in einer nicht ganz üblichen Erweiterung auf lebende Heilige und ihr öffentlichkeitswirksames Auftreten ausgedehnt wird. Dabei wird die Frage aufgeworfen, wie politisches Handeln in der hagiographischen Darstellung erscheint. Des Weiteren sollen die inhaltlichen Differenzen zwischen den für Papst und Kardinäle erstellten Prozessakten sowie den für lokale Interessenten verfassten Viten und Wundersammlungen ermittelt werden. Redigierende Eingriffe versucht Heß mit dem Begriff Zensur oder Zensierung zu fassen. Dabei zielt sie auf die Unterschiede zwischen Rom als dem Zentrum und dem Ostseeraum als Peripherie.
Die gewählte Untersuchungsgruppe besteht aus Birgitta von Schweden, Nikolaus von Linköping und Dorothea von Montau, deren Kanonisationsprozesse im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert stattfanden. Ihre Auswahl begründet Heß mit der geographischen Nähe, der Quellenlage und mit dem Erfolg (indes wurde im Mittelalter allein Birgitta 1391 kanonisiert). Zudem gehörten Nikolaus und Dorothea einer durch Birgitta inspirierten Welle von Kulten an, während in der Region die Verehrung autochthoner Heiliger bis ins 14. Jahrhundert relativ schwach ausgeprägt war.
Nach Kapiteln über Kanonisationsakten, die Heiligenverehrung im Ostseeraum (auf Dänemark, Schweden und Preußen konzentriert) und die Strukturen der Wundererzählungen folgt als Kernstück eine Untersuchung der hagiographischen Corpora der drei genannten Heiligen. Sie ist ausgesprochen detailreich im Blick auf die beteiligten Zeugen, auf Leben und Wunder und vor allem auf deren inhaltliche Veränderungen.
Birgitta stellte insofern einen Sonderfall dar, da sie als Witwe ihre späteren Lebensjahre in Italien verbrachte, ihr früheres, auch politisch aktives Leben aber in Schweden. Für ihre Hagiographen war besonders die Witwenzeit wichtig, nicht aber frühere Phasen. Es ergibt sich der Eindruck, dass die in Papstnähe redigierten Texte stärkere Nachwirkung hatten als diejenigen aus Schweden. Auch unter den volksprachlichen Quellen betont eine Nürnberger Vita ähnliche Aspekte wie die in Italien entstandenen Gegenstücke. Keine erwähnenswerte Zäsur stellt für Heß die Heiligsprechung dar, bei der Bonifaz IX. seine (gleichfalls selektive) Sicht auf Birgitta propagierte.
Das Nachleben des einstigen Bischofs Nikolaus von Linköping, dessen Amtsantritt ein Streit mit dem schwedischen König überschattet hatte, war offenbar durch die erfolgreiche Kanonisation Birgittas bedingt. In birgittinischer Überlieferung finden sich auch die Viten des Nikolaus und die 1416/17 abgefassten Prozessakten, doch verminderten sich die Bezüge zu Birgitta in letzteren merklich. Auch der ursprüngliche Fokus auf den bäuerlichem Milieu entstammenden Beispielen der lokalen Wundertätigkeit von Nikolaus schwand in den Akten dahin, was ebenfalls dazu beitrug, dass dieser Heiligenkandidat zunehmend an Profil verlor.
Hagiographische Texte über die verwitwete Klausnerin Dorothea aus dem westpreußischen Montau entstanden seit 1395; sie waren auch außerhalb des Ostseeraums verbreitet. Aus den Akten des 1404 eröffneten Kanonisationsverfahrens ergibt sich laut Heß ein widersprüchliches Bild Dorotheas. Sie sei vor allem die Heilige des in den Deutschen Orden inkorporierten Kapitels von Marienwerder gewesen (mit der dortigen Domkirche als ihrer Grablege), gleichwohl habe der Orden diese "proletarische" Abart (331) der eigenen Marienverehrung nicht getragen: Diese Einschätzung dürfte sicherlich zu weiteren Diskussionen führen.
Abschließend betont Heß die Differenzen der drei Verfahren (anders der Klappentext) und relativiert zu Recht den selbstgewählten Terminus der "Zensur". Überdies hebt sie den Wert der Wundersammlungen für die individuelle Charakteristik der Heiligen hervor, die allen Überarbeitungen zum Trotz erkennbar blieb. Daher kommt Heß zu dem Ergebnis, dass kein Bild der drei fraglichen Heiligen monopolisiert wurde, sondern divergierende Sichtweisen miteinander konkurrierten und sich nicht ausschlossen.
Kritik an der Arbeit darf man hinsichtlich einiger Prämissen formulieren. Wenn aktives politisches Handeln so wichtig war, warum wurden dann im 15. Jahrhundert Heilige wie Osmund von Salisbury oder Sebald von Nürnberg anerkannt, von deren Leben man kaum etwas wusste? Und war die "fama sanctitatis" wirklich verknüpft mit säkularer Berühmtheit oder nicht eher Resultat der Bemühungen von pressure groups? Bisweilen wird hier die existierende Literatur nicht erschöpfend rezipiert, was bei einem komparatistischen Ansatz problematisch ist, zumal Vauchez zahlreiche Fragen bereits berührte.[1] So haben, anders als Heß meint (23), Päpste durchaus Kulte untersagt (1368, 1371), und schon Innocenz III. stellte Kriterien auf, um die durch Heilige erwirkten Wunder Gottes von denen des Teufels zu scheiden. Und darf einleitend festgestellt werden, dass "weibliche Heilige oft abseits von institutioneller Macht und Positionen" (27) lebten? Der Blick auf die seit ca. 1100 kanonisierten Frauen zeigt vielmehr, dass Herrschaftsnähe eine Voraussetzung war, um zur Heiligen werden zu können, was notwendigerweise post mortem stattfand. Eine ebenso brüchige Prämisse, mit der Heß operiert, betrifft das obligatorische Vorhandensein einer Vita in den Kanonisationsakten: Es handelt sich in Wirklichkeit um eine ausgesprochene Spezialität des Prozesses über Birgitta. Berechtigt ist dagegen der Schwerpunkt, den Heß auf die Formulierung der Prozessartikel legt, die die Zeugen beantworten sollten - methodisch ähnliche Vorarbeiten hätten indes auch hier beachtet werden sollen.[2]
Ferner sind auch einige Einzelpunkte, die jedoch für die durch Heß untersuchte Bildung eines hagiographischen Profils im Rahmen der Kultgeschichte durchaus wichtig sind, ungenau: Weder die Erlaubnis Urbans VI. zur lokalen Verehrung Birgittas (so erst Johannes Messenius, † 1636) noch ihre zweite Kanonisation von 1415 (nur bei Ulrich Richental) sind so unbestritten, wie Heß sie darstellt (106f.). Dass das Große Schisma für das römische Papsttum - nun keineswegs unbestrittenes Zentrum - den Stellenwert der Peripherie und ihrer Heiligsprechungsanträge verändert haben mag, wäre zumindest anzudeuten, zumal Bonifaz IX. mit Johannes von Bridlington eine weitere Figur aus einer Randregion kanonisierte.
Präzisere Termini hätten insgesamt manche missverständliche Passage vermieden. Ohnehin scheint der gewählte Titel "Heilige machen" wenig glücklich. Jedenfalls geht es Heß nicht so sehr um Kanonisationsprozesse, wie sie gemeinhin definiert werden, als vielmehr um die Metamorphose und Selektion, die bestimmte Inhalte der Hagiographie, das heißt biographische Akzente und Wunder, auf dem Weg von den ersten Aufzeichnungen in die Akten und in weitere Derivate durchliefen. Diese Stufen in lateinischen wie volkssprachlichen Texten werden eingehend analysiert und verglichen, Gründe für Einbeziehung und Ausblendung von Aspekten erörtert und in Bezug zu relevanten Personengruppen gestellt sowie die Überlieferungszusammenhänge erläutert. Darin liegt der Wert dieser Studie. Illustrierend treten Exkurse über das Werfen von Losen zur Bestimmung des oder der anzurufenden Heiligen hinzu (154, 224). Wertvoll ist die Arbeit zudem wegen der Berücksichtigung auch der skandinavischen Literatur. Sie bietet daher Ansätze zu weiteren Forschungen, etwa über Birgittas Tochter Katharina, zu der Prozessakten ebenfalls erhalten sind und deren Verehrung in Skandinavien 1485 genehmigt wurde.
Anmerkungen:
[1] André Vauchez: La sainteté en occident aux derniers siècles du Moyen Age d'après les procès de canonisation et les documents hagiographiques (= Bibliothèque de l'école française de Rome; 241), Rom 2. Aufl. 1988.
[2] Paolo Mariani: Racconto spontaneo o memoria costruita? Testi a confronto in alcuni processi di canonizzazione del secolo decimoquarto, in: Mélanges de l'école française de Rome, Moyen Age 108 (1996), 259-319.
Otfried Krafft