Werner Schweibenz: Vom traditionellen zum virtuellen Museum. Die Erweiterung des Museums in den digitalen Raum des Internets (= Reihe Informationswissenschaft der DGI; Bd. 11), Frankfurt am Main: Deutschen Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis 2008, 278 S., ISBN 978-3-925474-64-4, EUR 25,00
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Der Titel, die Aufmachung und der Verlag des Bandes lassen den Leser zunächst eine technisch-zentrierte Abhandlung über ein Randthema des Museumswesens vermuten, jedoch nimmt Schweibenz die Diskussion um das virtuelle Museum zum Anlass, die Rolle des Museums in der Informationsgesellschaft insgesamt zu beleuchten und die Herausforderungen des Medienumbruchs an diese Institution herauszustellen. Eine umfassende Aufgabe, der Schweibenz mit einer Fülle von Zitaten und Literaturhinweisen nachgeht und die in diesem Umfang bisher noch nicht angegangen wurde. [1] Schweibenz hebt hervor, dass sich (angehende) Kuratoren/-innen zukünftig intensiver mit der Museumsdokumentation auseinandersetzen müssen, um mit den Anforderungen einer Informationsgesellschaft Schritt halten zu können (180). Da er dabei den Schwerpunkt auf Kunstmuseen legt (16), bekommen gerade Kunsthistoriker/-innen hier einen umfassenden und notwendigen Einblick in ein mögliches Berufsfeld.
Die ersten fünf Kapitel beschäftigen sich allgemein mit den Auswirkungen der digitalen Welt auf das traditionelle Museum. Nach einführenden Überlegungen zum Museum in der Informationsgesellschaft geht der Autor in den folgenden Kapiteln auf den Wandel ein, dem die entsprechenden Institutionen in den letzten Jahrzehnten unterworfen waren. Dabei beschränkt sich Schweibenz nicht nur auf die Herausforderung der digitalen Welt, sondern bezieht u.a. neue Lern- und Lehrkonzepte der Museumspädagogik, Museotainment und mediale Ausstellungspräsentation, Erkenntnisse der Besucherforschung, Herausforderungen des Freizeitmarktes und drohende "McDonaldisierung" (54) in seine Betrachtung mit ein.
Interessant sind seine Ausführungen zum Spannungsfeld zwischen Museumsobjekt und Museumsinformation in Kapitel 4. Schweibenz folgt der vor allem im angloamerikanischen Bereich geführten Diskussion und vertritt dabei die Meinung der Seite, die dem Museumsobjekt selbst nur noch eine geringe Bedeutung zuweist, während dem historischen und soziologischen Kontext eines Objekts als Museumsinformation ein primärer Stellenwert zugesprochen wird (111). Unter dieser Prämisse liegt es nahe, zur Verbreitung dieser Information auf das digitale Informationsmedium schlechthin, das Internet, zu setzen und damit die Weiterentwicklung des Museums im virtuellen Museum zu propagieren.
Nach diesen theoretischen Ausführungen geht Schweibenz im Folgenden konkret auf Formen und Möglichkeiten virtueller Museen ein. Schweibenz entwickelt ein "Kontinuummodell" (164) vom traditionellen Museum hin zum virtuellen Museum. Vom "Broschürenmuseum" und dem "Inhaltsmuseum" geht die Entwicklung über das "Lernmuseum" hin zum "Online-Museum". Die bereits auf dem Umschlag des Buches abgebildeten Entwicklungsschritte beinhalten dabei nicht zwangsläufig eine Abschaffung des traditionellen Museums. Die Vertreter des "Erweiterungsmodells" (139) betrachten das virtuelle Museum eher als Erweiterung des traditionellen Museums in den digitalen Raum des Internets. Diesem Modell entsprechen die ersten beiden Stufen, das "Broschürenmuseum" und das "Inhaltsmuseum". Die dritte Stufe, das "Lernmuseum", stellt bereits eine Übergangsphase zum "Separationsmodell" (140) dar, dessen Vertreter das virtuelle Museum als genuin eigenständige Einrichtung charakterisieren. Das "Online-Museum", die vierte Stufe, benötigt so keine Verankerung mehr in der physischen Welt, es ist orts- und zeitungebunden. Darin sieht Schweibenz eine "mögliche Realisierungsform der Idee des imaginären Museums von André Malraux" (167). Die elaborierteste Variante eines virtuellen Museums stellt die "Gedächtnisinstitution" dar. [2] Schweibenz versteht darunter eine übergreifende Einrichtung, die Objektinformationen auch aus Bibliotheken und Archiven aggregiert, wobei die bereitstellenden Institutionen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Schweibenz wendet diese Kategorien auf einige wenige Beispiele nachvollziehbar an, nennt aber als Beispiel für eine "Gedächtnisinstitution" nur die von den Projekten BAM und EU-BAM avisierten Zielsetzungen. Die Europäische Digitale Bibliothek Europeana [3] bleibt leider unerwähnt. Insgesamt ist auffällig, dass im gesamten Buch die sogenannte "Digital Library" keine Rolle spielt. Die vielfältigen Bestrebungen, die unter diesem Begriff firmieren und von der EU umfassend gefördert wurden, kommen nicht zur Sprache, obwohl es vielfältige Wechselwirkungen mit der Diskussion um virtuelle Museen gegeben hat und weiterhin gibt. [4]
Das breit angelegte Kapitel 7 beschreibt umfassend alle methodischen und technischen Aspekte, die im Spannungsfeld eines virtuellen Museums eine Rolle spielen. Selbst ein Fachmann [5] auf diesem Gebiet, behandelt Schweibenz ausführlich Benutzerfreundlichkeit und Barrierefreiheit von Websites. Des Weiteren werden u.a. der Umgang mit dem digitalen Bild, Langzeitarchivierung, Metadatenstandards, Urheberrecht, Qualitätssicherung und Museumskommunikation angesprochen. Das Kapitel nimmt sich wie ein praktischer Leitfaden für all diejenigen aus, die ein virtuelles Museum konzipieren wollen oder an dessen Erstellung beteiligt sind. Das wäre schon alleine ein Themenkomplex für ein eigenständiges Werk. Hier wird er in etwas mehr als 40 Seiten abgehandelt, so dass nicht verwundert, dass in einigen Fällen die Darstellung wichtige Details vermissen lässt. So verharrt Schweibenz beispielsweise bei der Museumsdokumentation, die als Objektinformationslieferant eine zentrale Funktion einnimmt (190) und sich gerade in Deutschland in einer beklagenswerten Situation befinde (181), auf der Position, die er bereits 2001 in einem Aufsatz [6] ausführlich dargelegt hat, ohne auf aktuelle Entwicklungen einzugehen. Das Metadatenformat Dublin Core Metadata Elements gilt ihm weiterhin als Mittel der Wahl, während andere Ansätze z.B. aus dem Bibliotheksbereich [7] oder den Fachwissenschaften [8] unerwähnt bleiben.
Den kommerziellen Aspekten virtueller Museen widmet Schweibenz ein eigenes Kapitel. Den Abschluss bildet eine ausführliche Zusammenfassung.
Der Band hat einen für Geisteswissenschaftler/-innen ungewöhnlichen Aufbau: Einer strengen numerischen Gliederung folgend, sind die 10 Kapitel in mehrfach gestaffelte Unterkapitel gegliedert, die teilweise nicht einmal eine halbe Seite lang sind. Jedem Hauptkapitel ist ein Überblick über die besprochenen Themen voran- und eine Zusammenfassung nachgestellt. Was bei erstmaligem Lesen gewöhnungsbedürftig ist und den Lesefluss einschränkt, erweist sich im Nachhinein als hilfreich, lassen sich so doch einzelne Themenbereiche zielsicher nachschlagen und jederzeit in den Gesamtkontext einsortieren.
Schweibenz kommt das Verdienst zu, mit dem vorliegenden Band erstmals diesen umfangreichen Themenkomplex in eine strukturierte und übersichtliche Form gebracht und dabei alle wichtigen Aspekte angesprochen zu haben. Das Fehlen einiger Details, das bei dieser Fülle der Themen nicht zu vermeiden ist, wird durch eine umfassende Literaturliste kompensiert, die allerdings nicht in allen Fällen auf aktuellem Stand ist. Wie Schweibenz zeigt, betreffen die Herausforderungen der Informationsgesellschaft sämtliche Bereiche des Museums, und es gelingt ihm, die dadurch entstandenen und entstehenden Probleme, aber auch Lösungswege konsequent aufzuzeigen, so dass das vorliegende Buch allen Kuratoren/-innen und auch zukünftigen Museumsmitarbeitern/-innen vorbehaltlos zu empfehlen ist.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Regine Scheffel: Rezension von: Werner Schweibenz: Vom traditionellen zum virtuellen Museum. Die Erweiterung des Museums in den digitalen Raum des Internets, in: Information - Wissenschaft und Praxis 2 (2009), 120.
[2] Schweibenz' Verwendung des Begriffs ist doppeldeutig. Zunächst wird der Begriff "Gedächtnisinstitution" (memory institution) in Kapitel 5.5 nach Dempsey als Sammelbegriff eingeführt, der real existierende Museen, Bibliotheken und Archive sowie andere kulturbewahrende Institutionen umfasst, während er im Folgenden (129 ff.) als eine Kategorie für virtuelle Museen verwendet wird.
[3] http://www.europeana.eu (17.08.2009).
[4] Vgl. Jane Barton: Digital Libraries, Virtual Museums: same difference?, in: Library Review 54 (2005), Nr. 3, 149-154, DOI: 10.1108/00242530510588908.
[5] Werner Schweibenz / Frank Thissen: Qualität im Web. Benutzerfreundliche Webseiten durch Usability-Evaluation, Berlin 2002.
[6] Michael Düro / Werner Schweibenz: Metadaten zur Erschließung von Museumsinformation im World Wide Web, in: Museologie Online 3 (2001), 1-83, http://www.vl-museen.de/m-online/01/01-1.pdf (17.08.2009).
[7] Mary W. Elings / Günter Waibel: Metadata for All. Descriptive Standards and Metadata Sharing across Libraries, Archives and Museums, in: First Monday 12 (2007), Nr. 3, http://firstmonday.org/htbin/cgiwrap/bin/ojs/index.php/fm/article/view/1628/1543 (17.08.2009).
[8] Karl-Heinz Lampe / Klaus Riede / Martin Dörr: Research between natural and cultural history information. Benefits and IT-requirements for transdisciplinarity, in: Journal on Computing and Cultural Heritage 1 (2008), Nr. 1, DOI: 10.1145/1367080.1367084.
Georg Hohmann