Stefan Geck: Dulag Luft - Auswertestelle West. Vernehmungslager der Luftwaffe für westalliierte Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 1057), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2008, xx + 544 S., ISBN 978-3-631-57791-2, EUR 86,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Die Historiographie zur Geschichte der modernen Militärnachrichtendienste wendet sich zunehmend neuen Fragestellungen zu, nachdem die Defizite der bisherigen Forschung zuletzt immer mehr zu Tage getreten sind. In der deutschen Forschungslandschaft erfuhr die Entwicklung der Military Intelligence in der Vergangenheit generell höchstens stiefmütterliche Aufmerksamkeit. Die englischsprachige Forschung konzentrierte sich bislang fast ausschließlich auf die griffige Erfolgsstory der so genannten Signals Intelligence, der mit den groß angelegten Programmen "Ultra" und "Magic" im Zweiten Weltkrieg der heimliche Einbruch in die deutschen Kommunikationskanäle gelungen war. Weitgehend vernachlässigt blieb hingegen der Bereich der Human Intelligence, also die nachrichtendienstliche Abschöpfung gegnerischer Kriegsgefangener. Ebenso wenig fanden neue Ansätze wie transnationale und kulturalistische Perspektiven auf die Geheimdienste der kriegführenden Mächte Berücksichtigung in der Forschung. Dabei hat sich das Potential solcher Zugänge bereits in den jüngsten Untersuchungen über die alliierten Speziallager abgezeichnet, die Briten und Amerikaner zwischen 1939 und 1945 auf dem ganzen Erdball betrieben, um dort internierte Soldaten der Achsenmächte zu vernehmen und heimlich in ihren Unterkünften abzuhören. Das umfangreiche Aktenmaterial aus diesen Lauschangriffen gibt nicht nur über Perzeptionsmuster und Mentalitäten der abgeschöpften Soldaten Auskunft, sondern gewährt zudem tiefe Einblicke, wie sehr die Auffassungen der westlichen Verbündeten von Military Intelligence und Psychological Warfare divergierten. Es zählt zu den zukunftsweisenden Forschungsfragen, inwieweit sich in diesen unterschiedlichen nachrichtendienstlichen Kulturen zugleich national spezifische Vorstellungen von Militär und Krieg artikulierten.
Stefan Geck hat mit seiner Würzburger Dissertation nun die Grundlagenforschung über die deutschen Anstrengungen auf dem Gebiet der Human Intelligence während des Zweiten Weltkrieges erheblich vorangebracht. Mit bemerkenswerter Akribie hat er alle verfügbaren Quellen aus deutschen, britischen und amerikanischen Archiven zusammengetragen, um die erste und wohl auch endgültige wissenschaftliche Darstellung der Geschichte des sogenannten Dulag Luft vorzulegen. Als Gegenstück zu den alliierten Interrogation Centers war dieses Verhörlager von der deutschen Luftwaffe eingerichtet worden, um an das Wissen von gefangenem Air Force-Personal zu gelangen und als "Nachrichtenzentrum" des Luftwaffenführungsstabes zu fungieren. An den Standorten in Oberursel, Frankfurt am Main und Wetzlar gingen von 1939 bis 1945 insgesamt etwa 40.000 britische und amerikanische Luftwaffenangehörige durch das Dulag Luft, etwa 25.000 davon wurden verhört. Im Gegensatz zu den Aktenbergen aus den alliierten Vernehmungslagern liegen vom Dulag Luft lediglich Überlieferungsfragmente vor, die keine wörtlichen Vernehmungsberichte oder gar Abhörprotokolle enthalten. Anders als die alliierten Materialien eröffnen die erhaltenen Quellen zum Dulag Luft also keine mentalitätsgeschichtlichen Zugänge zu den abgeschöpften Kriegsgefangenen. Auf einer Quellengrundlage, die sich vor allem aus den Rechercheergebnissen der alliierten Nachrichtendienste speist, verfolgt der Autor daher in erster Linie das Ziel, die Lagergeschichte in allen Facetten zu rekonstruieren und "die deutschen und westalliierten Intelligence-Strukturen/-Methoden" (1) miteinander zu vergleichen.
In den ersten beiden Hauptteilen seiner erschöpfenden Studie zeichnet Geck die Entstehungs- und Organisationsgeschichte des Dulag Luft in allen Einzelheiten nach. Hervorzuheben sind unter anderem Gecks anregenden Ausführungen zum Sozialprofil des Lagerpersonals. In seiner Heterogenität, Überalterung, Akademisierung und der Abwesenheit von Berufsmilitärs (251ff.) spiegelte sich eine ähnliche Hintansetzung der Nachrichtendienste wie in den alliierten Military Intelligence Divisions. Zu einer eigentümlichen, spezifisch deutschen Konstellation führten hingegen die überwiegend erfolglosen Bemühungen der Lagerleitung, die Interventionsversuche ziviler Institutionen zurückzudrängen. So musste das Dulag Luft seit Frühjahr 1944 die Einrichtung eines Gestapo-Postens sowie die Installation eines Verbindungsoffiziers aus Goebbels' Propagandaministerium hinnehmen. Während sich die Anwesenheit des RSHA offenbar nicht auf die Verhörpraxis auswirkte und vor allem zur Kontrolle des Lagerpersonals diente (104), erwies sich der Repräsentant des Propagandaministeriums als fruchtbarer "Impulsgeber" für das bis dahin hintangestellte politische Vernehmungswesen. Erst durch diese Erweiterung, so Geck, habe das Dulag Luft "das Fundament der deutschen psychologischen Kriegführung geschaffen" (214) - mit deutlicher Verspätung gegenüber den alliierten Vorreitern auf diesem Gebiet. Mangelndes Verständnis für moderne Kriegführung äußerte sich wiederum darin, wie weitgehend rüstungswirtschaftliche Aspekte in den Vernehmungen vernachlässigt wurden (207f.). Der Arbeit der Dokumentenauswertung im Dulag Luft attestiert Geck dennoch eine "recht hohe Güte"; der alliierte Nachrichtendienst ging sogar davon aus, dass bis zu 80 % der im Dulag Luft gewonnenen Informationen aus dieser Abteilung stammten (287 f.).
Die Vernehmungen, die Geck im vierten Hauptteil seiner Arbeit umfassend analysiert, hätten demnach lediglich zu etwa einem Fünftel zur Nachrichtengewinnung im Dulag Luft beigetragen; der alliierte Befund einer "geringen quantitativen Effizienz der Vernehmungsabteilung" ist anhand der überlieferten Quellen allerdings kaum verifizierbar (292). Was die Vernehmungsmethoden anbelangte, die zwischen "weichen" und "harten" Ansätzen changierten, aber das Völkerrecht in der Regel nicht verletzten, stellt Geck immerhin eine weitreichende Kongruenz mit den britischen Verhörtaktiken fest (337 ff.). Große Unterschiede zeigten sich hingegen bei der Anlage der Lauschangriffe. Zwar verfügte das Lager über herausragende Abhörtechnologie, doch setzte man nicht annähernd genügend Personal für die Überwachung der Räume und die Auswertung der belauschten Gespräche ein, so dass das "systematische Abhören von Kriegsgefangenen" im Dulag Luft "eine Randerscheinung" blieb (356f.). Da die deutsche Führung offenbar "kein Gespür für das Potential technischen Fortschritts im nachrichtendienstlichen Tagesgeschäft" besaß (356), dienten die sporadischen Lauschangriffe lediglich dazu, die eingesetzten Spitzel zu kontrollieren und die eigenen Vernehmungsoffiziere auf ihre Zuverlässigkeit zu überprüfen (352f.). Ähnlich konzeptionslos gestaltete sich, trotz mancher Erfolge, auch der Einsatz von V-Leuten im Dulag Luft (396f.). Es bleibt eine zentrale Frage, warum das deutsche Militär auf diesen Feldern so weit hinter der internationalen Entwicklung zurückblieb.
Die "Sonderaspekte", die Geck abschließend behandelt, fördern auf Umwegen zusätzliche Erkenntnisse über das Dulag Luft zu Tage. Die Beschäftigung mit dem Mythos der "Scharff-Methode", der sich bis in die Gegenwart als Lehrbeispiel für Verhöre in den US-Streitkräften hielt (14f.), wirft weiteres Licht auf den Alltag der Vernehmungen (440ff.). Die Analyse des Dulag Luft-Prozesses im Jahre 1945 beleuchtet das Phänomen der Gefangenenmisshandlungen, für die Offiziere des Lagers zu Haftstrafen verurteilt wurden, auch wenn sich solche punktuellen Völkerrechtsverletzungen in den westalliierten Verhörlagern kaum seltener ereignet hatten.
Die Analyse der "beträchtliche[n] Menge von Vernehmungsberichten, Beute- und Nachrichtenauswertungen", die im Dulag Luft entstanden ist und in Gecks Studie bewusst ausgeklammert bleibt (2), bildet einen anregenden Anknüpfungspunkt für die weitere Forschung. Gleiches gilt für die komparativen Fragestellungen, zu denen der Autor in vielen seiner Kapitel angesetzt hat. Mit seiner minutiösen Studie hat Geck wichtige Grundlagen für eine Weiterführung der Forschung zu den Strukturen der Militärnachrichtendienste des Zweiten Weltkrieges geschaffen und zudem eine Lücke in der deutschen Militärgeschichte geschlossen.
Felix Römer