Rezension über:

Klaus Herding / Antje Krause-Wahl (Hgg.): Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Emotionen in Nahsicht, Taunusstein: Driesen 2007, 361 S., ISBN 978-3-86866-076-0, EUR 42,00
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Rezension von:
Regine Heß
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Regine Heß: Rezension von: Klaus Herding / Antje Krause-Wahl (Hgg.): Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen. Emotionen in Nahsicht, Taunusstein: Driesen 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12 [15.12.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/12/13679.html


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Klaus Herding / Antje Krause-Wahl (Hgg.): Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen

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Der 2007 erschienene Aufsatzband enthält zwei Drittel der Beiträge der Tagung "Emotionen in Nahsicht - Die Macht des Ausdrucks", die 2004 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main stattgefunden hat. [1] "Emotionen in Nahsicht" war die Abschlusstagung des Graduiertenkollegs "Psychische Energien bildender Kunst", das 1996 unter der Leitung Klaus Herdings ins Leben gerufen worden war. Der Tagungsband "Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen" ist als Supplement zu dem Band "Pathos, Affekt, Gefühl - Die Emotionen in den Künsten" [2] zu verstehen. Erlaubt sich letzterer eine methodische Weitsicht und fachliche Fernsicht, fordert der erstere Nahsicht, also den Blick auf das Spezielle, auf das Werk. Er kann als Schlussdokument und Leistungsaufweis in einem, als Geste des Abschieds und des Aufbruchs zugleich gelesen werden. Der Begriff "Historische Emotionsforschung" ummantelt das ganze Unternehmen, dem unter der Initiative der Kunstwissenschaft die Fächer Philosophie, Geschichte, Neurologie, Sozialpsychologie, Psychoanalyse sowie Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft angeschlossen sind.

Mit der aus der Fächervielfalt resultierenden unspezifischen Wortverbindung "Historische Emotionsforschung" ist die Weitläufigkeit des neuen Forschungsfeldes gekennzeichnet, welches sich bislang nur in Form von Aufsatzsammlungen äußerte. [3] 17 Aufsätze sind eingeleitet durch einen Text Klaus Herdings. Sie reihen sich zum einen fachlich, zum anderen historisch-chronologisch aneinander. Den Auftakt macht David Freedbergs Beitrag "Empathy, Motion and Emotion", der sich mit deutschsprachiger Ästhetik um 1900 und ihren neuropsychologischen Implikationen beschäftigt. Freedbergs Forschung gibt einen gewissen historisch-theoretischen Unterbau und ist damit hinter der Einleitung Herdings ganz richtig platziert. Auch Joseph Imorde geht in "Das Weinen bei Mark Rothko" auf ältere Affekttheorien zurück, beginnend bei Horaz, um dann zu Christian Weise und Johann Georg Sulzer zu springen. Hier nun, um die emotionale Wirkung von Rothkos Farbfeldmalerei zu erklären, die dieser erwiesenermaßen selbst angestrebt hat. Es wird deutlich, dass die Werke jener Künstler, die sich zu ihren Wirkungsabsichten auch geäußert haben, sich besonders für die Emotionsforschung eignen. Dies liest sich auch den Beiträgen von Henry Keazor über den Rapper Jay-Z und seinen Videoregisseur Mark Romanek sowie von Oliver Grau über Leni Riefenstahls Film "Triumph des Willens", den er zusammen mit dem Computerspiel "America's Army" auf ihre suggestionserzeugenden Strategien untersucht, ab.

Dass die emotionsanalytische Befragung der Kunsttheorie sowohl für das zeitgleiche wie für späteres Kunstschaffen lohnend ist, zeigt auch der Beitrag von Harald Hendrix: Die Kunsttheorie der nachtridentinischen Zeit wusste "realistische" Kunst als instruktiv zu schätzen, die auch das Horrible darstellte. Eine Umwertung vormals abgewiesener Gefühlsregungen zeigt auch Gerlinde Gehrig in ihrem Beitrag über Fotografien von Cindy Sherman, in denen die Darstellung weiblicher Wut gar eine Hysterisierung der Betrachter auszulösen vermöge. Gehrig zieht Affekttheorien der Psychoanalyse heran, um der weiblichen Wutdarstellung eine reflexive Ebene einzuziehen. Die Vergeblichkeit von stabilen Identitäten im Bild scheint dann umso stärker auf, wenn "anrüchige" Gefühle inszeniert sind. Bernhard Stumpfhaus weist dann die Surrealisten um André Breton als Parteigänger der Zärtlichkeit und als Widerständler gegen moderne Objektivierungsbestrebungen von Gefühlen aus.

Wie die Kunstwissenschaft vom theoretischen Corpus anderer Fächern profitieren kann, erweist sich auch an Burkhardt Lindners Beitrag "Wäre Freud ins Kino gegangen... Früher Zeichentrickfilm, Affektbildung, Psychoanalyse". Lindner zeigt, dass Emotionsforschung neben der Semantik künstlerischer Schöpfungen auch einen motorischen Rezeptionsaspekt - gerade im "Bewegungsmedium" Film - beschreiben kann. So dient sie der Produktions- und Rezeptionsforschung wie zwei Seiten einer Medaille. Hier setzen auch Anne Hamker und Ulrich Pfarr an, die demonstrieren, wie Bill Violas Video "The Greeting" sowie Leonardos "Mona Lisa" durch die Untersuchungsinstrumente statistische Erhebung sowie "Facial Action Coding System" aus der Betrachterperspektive neue Rückschlüsse auf das Werk ermöglichen. Wenn hier soziologische und naturwissenschaftliche Verfahren auf Kunstwerke angewandt werden, entspricht das der Ausrichtung der Emotionsforschung in der Frankfurter Manier, war doch auch die Neurologie durch Wolf Singers Mitinitiatorenschaft von Anfang an vertreten. Hans Hacker, der ehemalige Leiter der neuroradiologischen Abteilung der Frankfurter Universitätsklinik, bringt aufgrund langjähriger Gehirnforschung in seinem Beitrag "Neuronale Rezeption emotionaler Inhalte darstellender Kunst" Hypothesen zur "Neurochronozität" der Gefühlsverarbeitung im Gehirn und stellt die Erregungsgrade unterschiedlicher zerebraler Gegenden in Informationsgrafiken dar, die die Bildwissenschaftler im Auditorium angesprochen haben könnten. Der Philosoph Martin Hartmann unterstellt Antonio Damasio, dessen Buch "Descartes Irrtum" häufig zur Klärung der Entstehung von Emotionen herangezogen wird, seinerseits einen Irrtum: In seinem Beitrag "Damasios Irrtum" widerspricht er dessen apostrophierter Meinung, das Kulturelle habe kaum Einfluss auf die Homöostase der Gefühle, entschieden. Gefühlserlebnisse aber als kulturell aufgeladen zu betrachten, gehört zu den Grundvoraussetzungen einer Emotionsforschung, die ihre faits als sozial begreift.

Über Malerei handeln die Beiträge von Marianne Koos, Thomas Kirchner und Kerstin Thomas: Koos weist dem "Ärmelportrait" des Cinquecento haptische Qualität nach, die die Betrachter über den Augenschein hinaus zu fesseln weiß. Thomas Kirchner korreliert soziokulturelle Veränderungen mit Wandlungen in französischen Affekttheorien des 17. und 18. Jahrhunderts sowie mit der Wahrnehmung von Affektdarstellungen in der Kunst, die sich zunehmend der Erfassung menschlichen Lebens zuwandte. Kerstin Thomas widmet sich der komplexen Definition des Begriffs der Stimmung (eine weitläufige Tour d'horizon durch Psychoanalyse und Philosophie geht dem voraus) und nimmt seine Exemplifizierung vor Wandgemälden Puvis de Chavannes' vor. Anhand der Beschreibung dargestellter Gefühle widerlegt sie die These, dass symbolistische Kunst die Gefühle ihrer Schöpfer wiedergebe; vielmehr fassten diese eine Stimmung in der Natur auf, die ihren Empfindungen korrespondiere und die in der Kunst nachgeschöpft werde. Der daraus resultierende Eindruck von Geschlossenheit und Dauer affiziere die Betrachter weniger in jähem Fühlen als vielmehr in versonnenem Betrachten. Mit den Beiträgen von Simone Winko und Ulrich Heinen über die gefühlsevozierenden Potenziale der Dichtkunst und der Oper schließt der Tagungsband ab.


Anmerkungen:

[1] Nicht veröffentlicht sind die Beiträge von Werner Oechslin, Raymond Dolan, Isabelle Graw, Claudia Benthan, Daniela Bohde, Julia Seipel, Peter Schmidt, Michael Hoff, Ulrich Oevermann, Mechthild Fend und Karl Clausberg.

[2] Klaus Herding / Bernhard Stumpfhaus (Hgg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin / New York 2004.

[3] Zu nennen ist noch Gerlinde Gehrig / Ulrich Pfarr (Hgg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe für die Kunstwissenschaft, Gießen 2009.

Regine Heß