Rezension über:

Elizabeth Prettejohn: Art for Art's Sake. Aestheticism in Victorian Painting, New Haven / London: Yale University Press 2007, xi + 343 S., ISBN 978-0-300-13549-7, GBP 35,00
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Rezension von:
Marion Korzilius
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Marion Korzilius: Rezension von: Elizabeth Prettejohn: Art for Art's Sake. Aestheticism in Victorian Painting, New Haven / London: Yale University Press 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12 [15.12.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/12/14156.html


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Elizabeth Prettejohn: Art for Art's Sake

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Elizabeth Prettejohn verfolgt mit der vorliegenden Publikation ein ehrgeiziges Ziel: Sie stellt die Eignung formalistisch geprägter Interpretationsmodelle in Frage, attackiert die Hegemonialstellung des Impressionismus und fordert eine Neubewertung der ästhetizistischen Malerei als Wegbereiter der Moderne. Walter Paters Rat an den "ästhetischen Kritiker" - nicht vergebens nach der allgemein gültigen Formel, sondern immer die einzelne Manifestation des Schönen zu suchen [1] - gibt die Leitrichtung vor: "[...] the only adequate way to explore the problem of what art is (if it is not anything else) is through concrete works of art" (5). Kants Kritik der Urteilskraft und Hegels Vorlesungen über die Ästhetik sind die philosophischen, Baudelaires und Gautiers Schriften die literarischen Eckpfeiler dieser interdisziplinär angelegten "Verteidigungsschrift".

Mit der Auswahl der für sechs ihrer insgesamt neun Essays titelgebenden Künstler folgt Prettejohn Sidney Colvin, der 1867 die Vertreter der neuen Kunstströmung in zwei Gruppen aufteilte: Leighton, Moore und Whistler, die Schönheit als rein formale Perfektion verstehen, und Rossetti, Burne-Jones und Solomon, die sie als eine Verbindung aus Leidenschaft und Intellekt behandeln (7, 109, 187). Eine Kategorisierung, insbesondere eine Hierarchiebildung lehnt Prettejohn angesichts der Selbstbezüglichkeit der im Geiste der art for art's sake geschaffenen Kunstwerke ab und stellt in einer Vielzahl von Bildanalysen dar, dass weder der Begriff noch die Gestalt des Ästhetischen einzugrenzen sind und dass "reine" Schönheit in der Heterogenität ihrer Ausprägung zwar immer Bedeutungsfreiheit, niemals aber Bedeutungslosigkeit meint.

Bereits Millais' Autumn Leaves und Rossettis The Blue Closet, beide aus der Mitte der 1850er-Jahre, lassen eine beginnende Verweigerungshaltung gegenüber konventionellen moralisch-didaktischen Auflagen erkennen. In beiden Fällen sieht Prettejohn ein ästhetisches Repetitions- und Variationsprinzip verwirklicht, das eine tiefgreifende Irritation des Betrachters mit sich bringt: Die Bilder erscheinen interpretationsbedürftig, geben sich aber interpretationsunwillig (23).

Swinburne entwickelt den Gedanken, dass Kunst nicht instrumentalisierbar ist, dass weder die Sujetwahl noch deren künstlerische Behandlung beeinflussbar sind, maßgeblich weiter. In seinen Schriften, die Prettejohn als epigonales Derivat der französischen l'art pour l'art-Bewegung unterbewertet sieht (37), lehnt er mit der Forderung nach absoluter Zweckfreiheit der Kunst auch die transzendental begriffene "beauté supérieure" ab. Rossettis berüchtigtes Gemälde Bocca Baciata (1860), in dem die gefühlte Distanz zwischen Bild und Betrachter verringert, die Sinnlichkeit des Kunsterlebnisses drastisch intensiviert ist, erscheint hierfür beispielhaft (39). Eine mithin konsequentere, dabei vollständig verschiedene Umsetzung lassen Whistlers Ölskizzen (um 1868) erkennen, deren aussageloser Titel Six Projects bereits auf das Potential ästhetischer Begriffsfreiheit reflektiert, während die Bilder selbst jegliche Information in Bezug auf die Handlung, die Identität der Dargestellten, den historischen oder geografischen Hintergrund verweigern.

Selbstbezüglichkeit und eine einzigartige "Zweckfreiheit" (96) sind bei Solomon in der Gestalt des Androgynen ausgedrückt; Prettejohn schreibt ihm gar dessen "Erfindung" zu (168): ein ästhetischer Idealtypus, meist in kontemplativer Versenkung gezeigt, der in jeder Hinsicht sich selbst genug ist. Albert Moore hingegen ästhetisiert Form und Inhalt in einem System: Das Kompositionsschema zahlreicher seiner Bilder, ein Raster aus Diagonalen, geht mit einer vollständigen Aufgabe des narrativen und expressiven Gehalts einher - dieselbe künstlerische Idee wie bei Mondrian oder Kandinsky sieht Prettejohn hier verwirklicht (126). Anders bei Frederic Leighton, in dessen Gemälden der menschliche Körper Bedeutungsträger ist: Beeinflusst von der Kunstphilosophie Hegels begreift er die Einheit von Form und Inhalt der antiken Skulptur als idealen Ausdruck des Schönen, den er wiederum in die zweidimensionale Ebene zu übersetzen sucht.

Als Dokument der fortschreitenden Emanzipation der Künstler von der Erwartungshaltung des Publikums führt Prettejohn Whistlers enigmatisches White Girl (1863) an, in dem Zeitgenossen eine säkularisierte Madonnengestalt, die verlorene Unschuld, Ophelia, Lady Macbeth, gar Wilke Collins' "Woman in White" zu erkennen glaubten (164). Dieser Deutungsflut widersetzt sich der Künstler mit dem Kommentar, er habe einfach ein Mädchen in einem weißen Kleid vor einem weißen Vorhang zeigen wollen. Ein Ansatz, den er in den Nocturnes konsequent weiterführt, indem er motivisch, perspektivisch und farbharmonisch variierte, auf Austauschbarkeit hin konzipierte ästhetische Konfigurationen eines klassischen Bildtypus erschafft (166).

Auch Rossettis Gedichte und Gemälde stellen für Prettejohn solche Konfigurationen dar (204, 231), unablässig miteinander und mit den kanonischen Werken der Kunstgeschichte korrespondierend: In einem wunderbaren Vergleich von Michelangelos Marchesa di Pescara und Botticellis Smeralda Bandinelli mit Rossettis La Donna della Finestra (1879), für den unverkennbar Paters Gioconda-Interpretation die Vorlage war [2], beleuchtet sie die Wirkung des Dreiviertelporträts von Jane Morris als ästhetisches Symbol, als Allegorie und als "poetische Suggestion" (228).

1868 erscheint Paters Aufsatz "The Poetry of William Morris", dessen unspezifisch gehaltener Schlussteil fünf Jahre später isoliert und als "Conclusion" der Renaissance veröffentlicht wird. Eine ähnlich übergeordnete Funktion besitzt Prettejohns letzter Essay, "Walter Pater", der nicht nur erläutert, welche Übereinstimmungen bereits 1873 zwischen der in der Renaissance offiziell behandelten Epoche und der zeitgenössischen Malerei erkannt wurden, sondern darüber hinaus die Vermutung anregt, dass ebenso wenig wie Pater allein die Kunst der italienischen Renaissance, Prettejohn allein die der viktorianischen Zeit begutachtet hat.

Elizabeth Prettejohns Essaysammlung gibt sich angesichts der mitunter umfänglichen Rückgriffe auf ihre früheren Veröffentlichungen zunächst den etwas behäbigen Anschein eines persönlichen "Best of". In Wahrheit aber ist mit diesem Buch etwas gelungen, das in der kunstgeschichtlichen Forschung bislang wohl einzigartig ist: eine beeindruckende Adaption und Interpretation von Walter Paters Renaissance. Parallelen lassen sich formal - der Titel "Two Early Aesthetic Pictures" beispielsweise entspricht Paters "Two Early French Stories", "The Fleshly School of Poetry" Paters "The School of Giorgione" - wie auch inhaltlich an unzähligen Stellen ausmachen. Wünschenswert wäre eine differenzierte Gegenüberstellung beider Werke, um diese wundervolle Publikation, deren einzige und letztlich unvermeidbare Schwäche darin besteht, dass die Autorin an einigen Stellen allzu offensichtlich Sorge trägt, die ausgefeilte Dramaturgie nicht durch ein vorzeitiges Dénouement zu zerstören, in angemessener Form zu würdigen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Walter Pater: The Renaissance. Studies in Art and Poetry, the 1893 Text, hg. von Donald Hill, Los Angeles / London 1980, xix.

[2] Walter Pater: Leonardo da Vinci [1869], in: wie Anm. 1, 97f.

Marion Korzilius