Rezension über:

Nobumasa Kiyonaga: Alfred Lichtwark : Kunsterziehung als Kulturpolitik, München: kopaed 2008, 520 S., ISBN 978-3-86736-117-0, EUR 24,80
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Rezension von:
Susanne Köstering
Museumsverband des Landes Brandenburg e.V., Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Köstering: Rezension von: Nobumasa Kiyonaga: Alfred Lichtwark : Kunsterziehung als Kulturpolitik, München: kopaed 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12 [15.12.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/12/16223.html


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Nobumasa Kiyonaga: Alfred Lichtwark : Kunsterziehung als Kulturpolitik

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Alfred Lichtwark ist eine der am meisten erforschten Persönlichkeiten, die die Geschichte der Kunstpädagogik geprägt haben. Allein seit 1980 sind 13 Dissertationen und Habilitationen über Lichtwark vorgelegt worden. Nun hat Nobumasa Kiyonaga den Versuch gewagt, etwas Neues über Lichtwark zu sagen. Seine Dissertation über Alfred Lichtwark (1852-1914), den ersten Direktor der Hamburger Kunsthalle und Impulsgeber für die deutsche Kunsterziehungsbewegung, ist am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg beheimatet.

Während die meisten vorliegenden Arbeiten einzelne wichtige Aspekte des Wirkens Lichtwarks beleuchten, fehlt eine neuere grundlegende Arbeit über Lichtwarks Kernidee, durch Kunsterziehung eine deutsche Kulturgemeinschaft zu generieren. Kiyonaga will nun in der Vielfalt der Felder, zu denen Lichtwark sich äußerte, die Einheit der treibenden Gedanken deutlich machen: eine deutsche Kulturnation zu erziehen. Lichtwarks Bemühen, den Deutschen spezifische kulturelle Kompetenzen einerseits zuzuschreiben und andererseits zu vermitteln, bildet den Dreh- und Angelpunkt der Arbeit. Ihr Anspruch ist es ferner, zu einer differenzierten Bewertung des Protagonisten zu kommen, die das gesellschaftliche Umfeld von dessen Arbeiten - Industrialisierung, Modernisierung, Spannungsverhältnisse zwischen Reform und Tradition im Kaiserreich, neue kulturelle Bewegungen - einbezieht.

Um dieses hoch gesteckte Ziel zu erreichen, holt Kiyonaga weit aus. Die erste Hälfte seiner Dissertation dient allein dazu, Lichtwarks Konzept der "Kulturgemeinschaft" darzustellen. Zunächst ordnet Kiyonaga Lichtwarks Verständnis vom "Volk", von der "Nation" und ihrer eigenen "Kultur" begriffsgeschichtlich ein. Demnach identifizierte Lichtwark die Nation weder mit politischen Grenzen noch mit militärischer Stärke, sondern eben durch ihre aus dem Volk gespeiste - nicht von oben verordnete - Kultur. Diese Kultur zu festigen und zu entwickeln, sollte dazu dienen, die 'verspätete Nation' in die Gemeinschaft der Völker hineinwachsen zu lassen. Nach innen sollte die postulierte "Kulturgemeinschaft" soziale und ökonomische Unterschiede harmonisieren. Regionalen Unterschieden kam in diesem Konzept, das auf den kurzen Nenner 'Einheit in Vielfalt' gebracht werden kann, eine wichtige Rolle zu. Nach außen setzte das prinzipiell auf Partnerschaft der Kulturen beruhende Konzept keine Gleichwertigkeit voraus: Lichtwark schätzte Frankreich und England als überlegene Kulturgemeinschaften ein, ebenso auch alte asiatische Kulturen wie die indische, japanische oder chinesische. Die Partnerschaft endete für ihn an der Grenze zu Osteuropa, das er für "unzivilisiert" hielt, mithin an der Grenze von Vorurteilsstrukturen. Trotzdem stellt Kiyonaga Lichtwark als "reflexiven Modernen" dem rückwärtsgewandten Kulturideologen Julius Langbehn gegenüber. Diese Bewertung ist Kiyonaga sehr wichtig: Die Auseinandersetzung mit Langbehn nimmt in der Dissertation den relativ größten Raum ein.

Unaufgelöst bleibt bei aller sorgfältigen Analyse jedoch, was Kultur in Lichtwarks Verständnis eigentlich sein sollte. Kiyonaga stellt diese Leerstelle in Lichtwarks Konzept fest. Kultur setzte er gleich mit einem vage bleibenden kollektiven "Empfinden", das seinen ästhetischen Ausdruck sucht und andersherum durch die ästhetische Erfahrung erst hergestellt und vertieft werden muss. Einer Kultur von "oben" setzte Lichtwark demnach eine Kultur "von unten", aus dem Volk heraus, entgegen. Diese Kultur sei Ausdruck einer sich aus der Gegenwart speisenden kollektiven Energie, keine aus Geschichte und Tradition abgeleitete Kategorie. Wenn also Lichtwark, so Kiyonaga, die "Nation" als kulturelle Konstruktion erfand, so erfand er zugleich eine bei aller regionalen und sozialen Vielfältigkeit auf einen gemeinsamen Nenner rückführbare "deutschen Kultur".

In der zweiten Hälfte der Arbeit dekliniert Kiyonaga Lichtwarks Leitbild einer nationalen kulturellen Identität auf unterschiedlichen kulturellen Feldern durch: dem Museum, der Jahrhundert-Kunstausstellung von 1906, der Denkmalkultur, der Kunst und der Kulturpädagogik, aber auch der Militärkultur.

Als roter Faden durch diese Felder dient die Auseinandersetzung zwischen dem 'Eigenen' und dem 'Fremden'. Ohne eigene Identität könne kein Austausch mit anderen Kulturen stattfinden, so lautet das Fazit, das Lichtwark als Museumsdirektor zog: Er sammelte Bilder aus Hamburg und kontrastierte sie mit Bildern französischer Künstler. Die Komplementarität von "Heimat" und "Welt", heute würde man sagen: Lokalem und Globalem, wurde zum Mittel zur Selbstfindung und Weltläufigkeit der Nation. Auch die reformpädagogische Praxis fußte auf diesem Raster, Lichtwark praktizierte in seinen Kunstkursen das induktive Lernen - vom Nahen zum Fernen, Entdecken vor Belehren, Können vor Wissen. Seine kunstpädagogische Maxime, den ästhetischen Sinn durch "unmittelbare Anschauung" zu entwickeln, setzte in seinem Verständnis die konkrete Darstellung des Realen voraus.

Seine Toleranz endete an der Schwelle zur abstrakten Malerei.

Wie der im 8. Kapitel geschilderte Streit um die künstlerische Gestaltung des geplanten - und nicht verwirklichten - Bismarckdenkmals bei Bingen am Rhein zeigt, focht Lichtwark für künstlerische Qualität an Stelle von Quantität, für Maßhalten an Stelle von Maßlosigkeit. Dass er sich mit seinen Prioritäten in diesem Fall nicht durchsetzen konnte, interpretierte er als Scheitern gegenüber einem Massengeschmack, der den Machtgestus bevorzugte. Indessen hatten Lichtwarks kunstpädagogische Innovationen nachhaltigen Einfluss mindestens auf Museen, Schulen und Volksbildungseinrichtungen.

Fazit: Kiyonaga legt eine respektable Gesamtschau über Lichtwarks Denken und Ambitionen vor. Die Arbeit fußt auf einem umfassenden, sorgfältigen Studium sämtlicher Äußerungen Lichtwarks. Die Fülle an Zitaten erschwert allerdings beim Lesen den Fluss des Gedankens, und einen weiteren Nachteil hat die ausführliche Textanalyse: Der gesellschaftliche, insbesondere der reformpädagogische Kontext kommt trotz guter Absichten recht kurz. Immerhin popularisierte Lichtwark reformpädagogische Methoden, die schon im 19. Jahrhundert entwickelt und seit der Reichsgründung in den Schulen intensiv vorangetrieben worden waren. Als einflussreicher Direktor der Hamburger Kunsthalle trug er darüber hinaus zur Transformation von Museen zu Bildungseinrichtungen für alle bei. Es wäre eine Bereicherung, das Verhältnis zwischen Idee (Kulturnation) und Praxis (Reformbewegungen) zu untersuchen. Die Arbeit würde auch gewinnen, wenn Bezüge zwischen der leitenden Fragestellung und aktuellen Diskussionen hergestellt würden. Identität wird heute vielfältiger, widersprüchlicher und dynamischer gedacht als vor hundert Jahren. Lichtwark stand im Grunde am Anfang dieser Entwicklung zu mehr Diversifizierung, er artikulierte das Verhältnis von Heimat und Welt, Eigenem und Anderem als Gegenüber, wo heute Überlappungen, Vermischungen, Hybride als Konstruktionen vorherrschen.

Susanne Köstering