Louis Begley: Why the Dreyfus Affair Matters, New Haven / London: Yale University Press 2009, XVI + 251 S., ISBN 978-0-300-12532-0, GBP 18,00
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Was hat der Fall Dreyfus mit Guantánamo zu tun? Louis Begley, der US-amerikanische Schriftsteller polnisch-jüdischer Herkunft, der mit seinem literarischen Debüt "Lügen in Zeit des Krieges" weltberühmt wurde, hat in seinem vorliegenden Essay ein politisches Statement vorgelegt, das es in sich hat. Begley, wie gesagt, nicht nur ein begnadeter Schriftsteller sondern darüber hinaus auch ein Jurist von hohen Graden, hat sich eines Themas angenommen, das die amerikanische Öffentlichkeit gegenwärtig in starkem Maße beschäftigt. Müssen wir, so fragt Begley, Guantánamo nicht anders beurteilen, liegt es nicht sehr viel näher an der vor Französisch Guayana liegenden Teufelsinsel, auf der einst der aus dem Elsaß stammende französische Hauptmann Alfred Dreyfus (1859-1935) 1894 auf Grund falscher Anschuldigungen hin verbannt worden war.
Rekapitulieren wir. Im September 1894 gelangte der französische Geheimdienst in den Besitz eines mysteriösen handgeschriebenen Schriftstücks ("Borderau"), in dem ein anonymer Insider dem deutschen Militärattaché geheime militärische Informationen zu liefern versprach. Der Verdacht fiel sehr schnell auf Dreyfus, der den nationalistischen Kreisen wegen seiner jüdischen Herkunft geradezu als Verräter prädestiniert erschien. Noch ehe man die Voruntersuchungen abgeschlossen hatte, war das Urteil bereits gefällt und Dreyfus wurde von einem Kriegsgericht wegen angeblichen Landesverrats abgeurteilt.
Am 5. Januar 1895 musste sich Dreyfus im Hof der École Militaire in Paris einer demütigenden Szene unterziehen. Man zerbrach vor der angetretenen Truppe seinen Säbel und riss ihm die Epauletten von den Schultern. Theodor Herzl, Begründer des politischen Zionismus, damals Berichterstatter für die Wiener Neue Freie Presse in Paris war Zeuge des Vorganges: Um neun Uhr war der Riesenhof mit Truppenabteilungen, die ein Karree bildeten, gefüllt. Fünftausend Mann waren ausgerückt. In der Mitte hielt ein General zu Pferde. Einige Minuten nach neun wurde Dreyfus herausgeführt: Er trug die Hauptmannsuniform. Vier Mann führten ihn vor den General. Dieser sagte: "Alfred Dreyfus, Sie sind unwürdig die Waffe zu tragen. Im Namen des französischen Volkes degradiere ich Sie. Man vollziehe das Urteil".
Bis heute haftet im kollektiven Gedächtnis das Bild der Zeremonie der Degradierung. Die damals zu hörenden Rufe der Zuschauer "Judas! ", "Verräter! " beziehungsweise "Zum Tode mit dem Verräter!" entfachten bei den Anwesenden eine "eigentümliche Erregung" und weckte beispielsweise bei Herzl den Verdacht, dass es um etwas anderes als Verrat ging. Dreyfus, meinte er, werde nicht als Verräter beschimpft sondern als Jude.
Der Schriftsteller Émile Zola, ein Vertreter der gemäßigten Linken, der von der Unschuld von Dreyfus überzeugt war, verfasste damals den berühmt gewordenen öffentlichen Protest-brief "J' Accuse", erschienen in der Zeitung "L'Aurore", in dem es sarkastisch hieß: "Das Volk von Frankreich, das großmütige, in die Geschichte verliebte, das Volk der Menschenrechte, das alle Prozesse revidiert, nie eine Sache für endgültig abgeurteilt haben mag - es will nicht, dass man die Schuld des jüdischen Hauptmanns überhaupt noch in Frage stellt".
Noch heute wundert man sich, dass Dreyfus wegen Landesverrates abgeurteilt werden konnte. Die vorgelegten Dokumente waren samt und sonders gefälscht und die vor Gericht gemachten Zeugenaussagen unzutreffend. Die Tatsache, dass sieben Militärrichter - allesamt Offiziere der hochgeachteten französischen Armee - ihr Urteil einstimmig fällten, beeinflusste die öffentliche Meinung stark. Man war allgemein, weil das Gericht ein Urteil gefällt hatte, von Dreyfus' Schuld überzeugt und kam gar nicht auf die Idee, dass mit den diesen gegenüber erhobenen Beschuldigungen etwas nicht stimmen konnte.
Das Frankreich jener Jahre versank geradezu in einem frenetischen Taumel des Antisemitismus. Das von den sozialen Entwicklungen verunsicherte Bürgertum verschlang gierig Propagandaschriften wie etwa Eduard Drumonts Machwerk "La France juive" (1886), einem der größten buchhändlerischen Erfolge des 19. Jahrhunderts. Großer Beliebtheit erfreuten sich aber auch Broschüren und nationalistische Zeitungen wie "La libre Parole", in denen gegen Juden gehetzt und insbesondere gegen die angeblich untragbar hohe Zahl jüdischer Berufsoffiziere protestiert wurde. Juden in der Armee sah man als etwas an, was nicht sein durfte; sie wurden als feige beschimpft und als unpatriotisch denunziert.
Der Fall des wenig später auf die Teufelsinsel deportierten Dreyfus wurde, nicht zuletzt wegen zunehmender öffentlicher Proteste, 1899 vom Kassationshof an das Kriegsgericht in Rennes zurück verwiesen. Der Fall wurde wieder aufgerollt, aber es erfolgte auch im zweiten Prozess kein Freispruch. Das Gericht war erneut von Offizieren besetzt, die alles taten, um den Ruf der Armee nicht ins Zwielicht geraten zu lassen.
Das Gericht konnte sich nur dazu durchringen, die Verurteilung zu lebenslänglicher Verbannung zu einer zehnjährigen Festungshaft umzuwandeln. Dreyfus, wohl wissend, dass er von einem Militärgericht keine Gerechtigkeit zu erwarten hatte, verzichtete darauf, Berufung einzulegen und nahm die von Präsident Emile Loubet vorgeschlagene Begnadigung an - allerdings unter der Bedingung, dass er seine Bemühungen zum Beweis seiner Unschuld fortsetzen könne.
Erst Jahre später wurde Dreyfus rehabilitiert und seine Ehre wieder hergestellt. Zu verdanken hatte er das in erster Linie den Dreyfusards, den so genannten Intellektuellen ("Les Intellectuels") wie die Parteigänger von Dreyfus von ihren Gegnern abschätzig genannt wurden. Neben dem schon genannten Émile Zola gehörten dem Kreis Köpfe an wie Jean Jaurès, Antole France, Georges Clemenceau und Charles Péguy, um nur einige der bekanntesten Namen aufzuzählen.
Diese Männer, die Dreyfus in seinem Kampf um Rehabilitierung unterstützten, waren fest davon überzeugt, sie würden dadurch, dass sie sich für Dreyfus einsetzten, zum Schutz der Republik gegen ihre Feinde beitragen. In dem Dickicht von Lügen, Verschleierungen und Intrigen waren sie es, die den Überblick behielten und es verstanden, die Attacken gegen die Republik und ihre demokratischen Prinzipien abzuwehren.
Dreyfus, der fünf Jahre lang auf der Teufelsinsel gefangen saß und danach sechs Jahre mit Hilfe seines Bruders und seiner Unterstützer um die Wiederherstellung seiner Ehre und seines guten Namen gekämpft hatte, wurde zwar wieder im Rang eines Majors in die Armee aufgenommen, musste aber feststellen, dass ihn seine Offizierskameraden als einen "Nestbeschmutzer" ansahen, mit dem sie nichts zu tun haben wollten. 1907 fasste er deshalb den Entschluss, den aktiven Dienst zu quittieren. Allerdings ließ er es sich nicht nehmen, im Ersten Weltkrieg wieder die Uniform anzuziehen und seinem Vaterland zu dienen.
Noch heute ist Frankreich über die Affäre tief gespalten. Bei bestimmten Anlässen bricht der Streit auf. So beispielsweise als im Februar 1994 der Direktor des französischen militärhistorischen Instituts SHAT seiner Funktionen enthoben wurde, nach dem er sich despektierlich über den Fall Dreyfus geäußert hatte. Auch als 2006 der Antrag diskutiert wurde, Dreyfus sterbliche Überreste in das Panthéon zu überführen, empfand man das vielerorts als Zumutung. Präsident Chirac, der sich sonst für Dreyfus einsetzte, lehnte den Antrag mit der seltsamen Begründung ab, Dreyfus sei keine Heldengestalt der französischen Geschichte sondern ein Opfer, folglich könne für ihn keine Grabstätte im Pantheon geschaffen werden.
Ein anderer Vorgang hatte einen ähnlichen Hintergrund. Als 100 Jahre nach der Rehabilitierung von Dreyfus eine Skulptur zu dessen Gedenken auf den Hof der École Militaire aufgestellt werden sollte, dem Schauplatz der einstigen Degradierungszeremonie, kam es ebenfalls zu Streitereien. Die Statue, die einen Offizier in Habachtstellung darstellt, der ein zerbrochenes Schwert in der Hand hält, konnte deshalb nicht an dem Ort aufgestellt werden, wo sie eigentlich stehen müsste. Nur mit viel Mühe konnte ein anderer Platz für die Aufstellung der Statue gefunden werden. Heute steht sie auf einem Platz in der Nähe der Metro-Station Notre-Dame-des Champs im sechsten Pariser Arrondissement und lässt damit den Bezug zu Dreyfus und dem ihm einst zugefügten Unrecht vermissen.
Begley, der den Dreyfus-Fall ausführlich schildert, bemüht sich an verschiedenen Stellen seines Essays, historische Parallelen zu ziehen. Wie Dreyfus, der auf Grund falscher Anschuldigungen auf die Teufelsinsel deportiert wurde, seien auch nach Guantánamo Gefangene gebracht worden, und zwar auf Grund des bloßen Verdachts hin, Terroristen zu sein. Einige der Guantánamo-Häftlinge seien, so meint Begley, womöglich eben so unschuldig wie seiner Zeit Dreyfus, was allerdings beim Leser die Frage aufwirft, ob ein solcher Vergleich überhaupt zulässig ist, da die damaligen Umstände nicht ohne weiteres mit den heutigen verglichen werden können.
Was Begley wie viele Amerikaner heute umtreibt, ist der Sachverhalt, dass in der Regierungszeit Bush Häftlingen in Guantánamo der elementarste Rechtsschutz vorenthalten wurde. Ausdrücklich begrüßt Begley deshalb den Kurswechsel der Regierung Obama und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass wenn die Guantánamo-Häftlinge nicht freigelassen werden, dann doch künftig Verfahren vor ordentlichen Bundesgerichten oder vor rechtmäßig gebildeten Militärgerichten stattfinden sollten.
Denn, das ist die Überzeugung von Louis Begley, auch die Guantánamo-Insassen haben einen Anspruch unter dem Schutz der amerikanischen Gesetze und Verfassung zu stehen und sollten den gleichen Rechtsschutz genießen, wie andere Angeklagte auch, die sich wegen des Verdachts auf verbrecherische Handlungen vor US-Gerichten verantworten müssen.
Julius H. Schoeps