Helmut Konrad / Wolfgang Maderthaner (Hgg.): Das Werden der Ersten Republik. "... der Rest ist Österreich", Wien: Carl Gerold's Sohn 2008, 2 Bde, 392 S., ISBN 978-3-950-26310-7, EUR 70,00
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Im Vergleich zur Weimarer Republik ist die erste österreichische Republik noch immer deutlich weniger erforscht. Schon allein deshalb muss jeder neue Beitrag zur Forschung überaus willkommen sein, noch dazu, wenn er Aufsätze von über dreißig Autoren in zwei attraktiv aufgemachten Hardcover-Bänden auf fast 700 Seiten versammelt. Anlass für dieses umfangreiche Unternehmen bot wie in so vielen Fällen ein Jubiläum, hier der 90. Jahrestag der Republikgründung 2008.
Nicht nur bestehende Forschungslücken sind bei einem solchen Projekt jedoch im Hinterkopf zu behalten, sondern auch die Tatsache, dass die Erste Republik bis vor nicht allzu langer Zeit "fast nur als Negativfolie zur Geschichte der Zweiten Republik" (14) betrachtet wurde, wie die beiden Herausgeber Helmut Konrad und Wolfgang Maderthaner in ihrer "editorischen Vorbemerkung" konstatieren. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass dem Leser in Vorwort und Geleitwort - beide von namhaften Vertretern aus der Politik verfasst - gleich mehrfach das Plädoyer für eine objektive Würdigung der Geschichte jener Jahre, für ein Abstandnehmen von ihrer politischen Instrumentalisierung ins Auge fällt. Gleichzeitig tritt der erste Schreiber, Bundespräsident Heinz Fischer, auch für eine Nutzung der Forschungsergebnisse "als historisches Anschauungsmaterial, das uns bei der Lösung von Problemen der Gegenwart und der Zukunft sehr behilflich sein kann" (10), ein. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass trotz dieser Worte der - durchaus reizvollen - Versuchung widerstanden wurde, Linien zu ziehen von der Ersten zur Zweiten Republik, sondern auch einmal eine enge zeitliche Fokussierung auf das "Werden" der Republik, das heißt auf ihre Anfangsjahre, gewagt wurde. Denn der Übergang vom Krieg zum Frieden und von der Monarchie zur neuen Staatsform verdient als vielschichtiger Transformationsprozess in Zeiten, in denen historische Forschung vermehrt nach dem Wandel normativer Vorstellungen und deren Relevanz für politisches Handeln fragt, weit mehr Beachtung, als ihm bislang zuteil wurde.
Die beiden Bände sind in fünf thematische Abschnitte unterteilt. Der erste - aus nur zwei Beiträgen bestehend (Rauchensteiner, Musner) - richtet den Blick zunächst noch auf das Kriegsende und stellt somit die Bedeutung des Krieges für die Geschichte der Ersten Republik formal wie inhaltlich an den Anfang des Aufsatzreigens. Der zweite Block hat die neuen Grenzen zum Thema. Neben einem allgemeineren Beitrag über Karl Renner und den Friedensvertrag von St. Germain (Mikoletzky) werden hier die zahlreichen Probleme rund um Grenzziehung und Staatszugehörigkeit behandelt, die sich in den Jahren nach Kriegsende stellten. Nicht nur die wohl bekanntesten Konfliktherde - die deutsche und die Südtirolfrage (Saage, Steininger) - sind hier in den Blick genommen, sondern auch die neuen Grenzen zu Kärnten, Ungarn und der Tschechoslowakei (Weinmann, Rásky, Reichel) sowie die Vorarlberger Anschlusspläne an die Schweiz (Koller). So wird diesem Themenkomplex, zentraler Grundstein für die weitere Geschichte der Republik, sehr umfassend Rechnung getragen, bevor der Fokus wechselt auf die Politik des neuen Staates. Unter anderem werden in diesem Abschnitt die außen- und die verfassungspolitische Entwicklung (Hanisch, Noll) thematisiert, verschiedene parteipolitische Lager (Binder, Bauer) vorgestellt und die Rolle von Religionsgemeinschaften (Hacohen, Weigl) beleuchtet.
Das zweite Buch widmet sich zum einen den "Fragen der ökonomischen und der sozialen Redimensionierung" (17). Zentrales Thema ist hier die Problematik der Überlebensfähigkeit des neuen Rumpfstaates. Die Bandbreite der Beiträge reicht von den Problemen der Inflation und der Geldpolitik (Weber, Matis), über die Frage nach der Stellung des Bürgertums beziehungsweise der Frau im neuen Staat (Berger, Schmidlechner), bis zu den Themen der Sozialisierung und der volkswirtschaftlichen Theorien (Stöger, Klausinger). Zum anderen ist im zweiten Buch Raum für Beiträge zur "kulturellen Redimensionierung" der Ersten Republik, wie der letzte Block an Aufsätzen überschrieben ist: Nach einem eher kulturtheoretischen Beitrag (Mattl), der Avantgarden und Massenkultur im Kontext des Weltkriegs untersucht, widmen sich verschiedene Autoren der Literatur, der Kunst, der Musik und dem Theater, aber auch dem Fußball, der Pädagogik und der Psychologie.
Nicht selbstverständlich für einen Sammelband ist das Personenregister, das die Nutzbarkeit unbestreitbar erhöht. Ebenso nützlich wie nett anzusehen sind zudem die zahlreichen Abbildungen und die vier beiliegenden großformatigen und farbigen Karten. Weniger sinnvoll erscheint hingegen der Anhang gestaltet: Der Waffenstillstandsvertrag von 1918, das Gesetz vom 12. November 1918 über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich sowie ein Auszug aus dem Staatsvertrag von St. Germain sind längst vielfach zugänglich und erwecken am Ende eines Sammelbandes eher den Anschein, als ein Seitenfüller denn als eine ergänzende Hilfe zu dienen, zumal in den Beiträgen auch nicht hierauf verwiesen wird. Statt dessen hätte man sich lieber mit einem einführenden Aufsatz über den Ablauf der Ereignisse 1918/1919 oder zumindest mit einer chronologischen Auflistung helfen sollen, um dem nicht mit den Details vertrauten Leser einer Brücke zu den Spezialbeiträgen zu bauen und dem Anspruch, ein Standardwerk zu schaffen, Genüge zu tun. Als Manko kann des Weiteren erscheinen, dass die Trennung in Politik-, Wirtschafts- und Sozial- sowie Kulturgeschichte so streng im klassischen Sinne beibehalten wurde. Beiträge zur politischen Kultur, zur politischen Symbolik oder Sprache im Übergang vom alten zum neuen Staat vermisst man daher. In diesem Zusammenhang ist auch zu kritisieren, dass die eingangs erwähnte Frage nach dem normativen Wandel, die sich gerade für eine Umbruchphase wie die hier thematisierte mit Vehemenz stellt, insgesamt zu kurz kommt. Und noch ein letzter Punkt sei genannt, der allerdings so manchen Sammelband trifft: Um den Forschungsertrag zu bündeln, bedürfte es eines Vorwortes, das über Einleitung und Inhaltsüberblick hinausgeht, oder eines entsprechenden Abschlussbeitrages.
Über diesen kritischen Bemerkungen darf jedoch eines nicht in den Hintergrund geraten: Die beiden Herausgeber haben mit ihrem Werk ein vielschichtiges Panorama zur Geschichte der Ersten Republik mit Beiträgen vielfach renommierter Autoren auf hohem Niveau zusammengetragen, dessen Existenz zweifellos ein großer Gewinn ist. Ausgehend von dem hier ausgebreiteten Forschungsstand wird man vielleicht im nächsten Schritt noch etwas mehr wagen können.
Eva Maria Werner