Frank Grüner: Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941-1953 (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas; Bd. 43), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, XV + 559 S., ISBN 978-3-412-14606-1, EUR 66,90
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A. I. Solženicyn: Dvesti let vmeste (1795-1995), Bd. 1. [Dt. Ausgabe: "Zweihundert Jahre zusammen". Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916, München: Buchverlage Langen Müller Herbig 2002, 560 S., ISBN 3-7766-2287-3, EUR 34,90.], Moskau: Russkij put´ 2001
Helmut Altrichter (Hg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München: Oldenbourg 2006
Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland, Stalins Rußland. Aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl Heinz Siber, München: DVA 2005
Die Stalin'sche Politik gegenüber den Juden gibt der Forschung noch viele Rätsel auf. Einerseits versuchte Moskau, die jüdische Karte zu spielen, und gründete zu diesem Zweck im April 1942 das Jüdische Antifaschistische Komitee (JAK), das an die jüdische Öffentlichkeit im Westen appellierte, die Sowjetunion in ihrem Überlebenskampf zu unterstützen. Zur gleichen Zeit begann die Kremlführung aber mit rassischen Säuberungen, um einige sowjetische Institutionen von der sogenannten "jüdischen Dominanz" zu befreien. Diese Ambivalenz war auch nach der Bezwingung des 'Dritten Reiches' immer wieder zu beobachten. Die UdSSR setzte sich zwar vehement für die Gründung des Staates Israel ein. Zugleich aber bekämpfte die Moskauer Führung brutal den sogenannten "jüdischen Nationalismus" und schürte antisemitische Emotionen im Lande mithilfe der "antikosmopolitischen" Kampagne.
Alle diese Widersprüche rufen seit Jahrzehnten zahlreiche Kontroversen in der Forschung hervor. Nach der partiellen Öffnung der russischen Archive infolge der Auflösung der UdSSR konnten zwar viele der bis dahin aufgestellten Hypothesen verifiziert oder falsifiziert werden. Dessen ungeachtet bleiben immer noch zahlreiche Fragen offen. Einigen von ihnen ist die vorliegende Monografie gewidmet.
Mit Recht kritisiert der Autor die in der bisherigen Literatur zur stalinistischen Judenpolitik verbreitete Tendenz, sich vor allem mit dem Vorgehen der Regierung zu befassen und die Sicht der sowjetischen Juden auf die damalige Entwicklung zu vernachlässigen. Mit seiner Studie will der Autor dazu beitragen, dieses Ungleichgewicht zu beseitigen. Der Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung der sowjetischen Juden ist mehr als die Hälfte des Buches gewidmet. Die bedeutendste Zäsur in der Entwicklung der sowjetjüdischen Identität stellte für den Autor der 22. Juni 1941 dar. Bis zum Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges seien die sowjetischen Juden von einem mächtigen Assimilierungssog erfasst gewesen. 1937 hatten sich nur 17,4 Prozent als religiös bezeichnet (363). Das Diktum der sowjetischen Ideologen, die Juden seien keine Nation, weil ihnen die wichtigste Voraussetzung dafür, nämlich das eigene Territorium, fehle, sei von der Mehrheit der sowjetischen Juden verinnerlicht worden. Die nationalsozialistische Terrormaschinerie, zu deren wichtigsten Zielen die Vernichtung aller Juden zählte, habe indes die über viele Länder verstreuten Juden, auch diejenigen in der UdSSR, daran erinnert, dass sie doch eine Schicksalsgemeinschaft bildeten.
Der Autor weist mit Recht darauf hin, dass sich auch das stalinistische Regime kurz nach dem Hitler'schen Überfall auf die Sowjetunion von seinem Dogma, die Juden seien keine Nation, verabschiedete und an die Juden der ganzen Welt appellierte, der Sowjetunion in der gefährlichsten Stunde ihrer Geschichte beizustehen. Um diesem Appell mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, habe die Moskauer Führung das bereits erwähnte Jüdische Antifaschistische Komitee gegründet. Die tragische Geschichte dieser Organisation, in der sich das Schicksal des sowjetischen Judentums in der von Grüner untersuchten Periode in komprimierter Form widerspiegelt, wurde schon oft dargestellt. In erster Linie muss man hier die bahnbrechenden Untersuchungen Shimon Redlichs und Gennadij Kostyrčenkos nennen. [1] Viele Fragen im Zusammenhang mit dem Schicksal dieser wichtigsten jüdischen Organisation in der spätstalinistischen Periode bleiben indes unbeantwortet. Warum ließen die sowjetischen Behörden das JAK auch nach dem Krieg, als es seine wichtigste Aufgabe bereits erfüllt hatte, zunächst weiter existieren - dies ungeachtet einer äußerst kritischen Bewertung seiner Tätigkeit? Warum fand der Prozess gegen führende Funktionäre des JAK erst etwa vier Jahre nach deren Verhaftung statt? - Eine recht untypische Verhaltensweise für die stalinistischen Terrororgane. Warum fand dieser Prozess, anders als der etwa zur gleichen Zeit inszenierte antisemitische Slansky-Prozess in Prag, nicht öffentlich statt? Grüner vermutet, dass das JAK seine Existenz bis November 1948 nicht zuletzt dem Machtkampf zwischen dem sowjetischen Chefideologen Ždanov und seinen Kontrahenten verdankte: "Sollte sich Ždanov tatsächlich eher für eine weitere Existenz des JAK ausgesprochen haben, so trugen seine allmähliche politische Entmachtung und schließlich sein (noch immer ungeklärter Tod) 1948 dazu bei, den ohnehin schwachen Kreis der politisch einflussreichen 'Unterstützer' des JAK endgültig aufzulösen." (114) Ebenfalls plausibel ist die These des Autors, Stalin habe auch nach 1945 die "Autorität des JAK und die guten Verbindungen seiner Mitarbeiter zu internationalen jüdischen Organisationen" gebraucht. Sie konnten ihm "bei der Verwirklichung seiner Nahost-Pläne [...] von Nutzen sein." (126) Weniger überzeugend hingegen ist eine andere Vermutung Grüners, dass Stalin mit der Auflösung des JAK gewartet habe, um zusätzliches kompromittierendes Material gegen die Organisation zu sammeln (115). Dabei lässt der Autor außer Acht, dass die stalinistische "Justiz" für ihre Vernichtungsfeldzüge gar keine objektiven Beweise benötigte. Die "Beweise", die sie brauchte, produzierte sie in der Regel selbst, z.B. durch die Folterung von Opfern.
Was den Verzicht Stalins auf einen Schauprozess gegen die JAK-Führung anbetrifft, so führen einige Historiker diese Entscheidung auf das mutige Verhalten der JAK-Funktionäre zurück. Einige hätten die kurz nach ihrer Verhaftung erpressten Geständnisse während der Gerichtsverhandlung widerrufen. Diese Erklärung ist allerdings unbefriedigend. Ab Mitte der 1930er Jahre entwickelte die stalinistische Terrormaschinerie äußerst wirksame Methoden, um so gut wie jedes Opfer physisch und psychisch zu brechen. Die JAK-Aktivisten stellten insoweit wohl keine Ausnahme dar. Stalins Verzicht auf einen öffentlichen Prozess gegen sie hatte wahrscheinlich andere Gründe. Sicher nicht die "völlig unzureichende Beweislage", auf die Grüner hinweist (484). Überzeugender ist eine andere Vermutung des Autors. Ein Schauprozess gegen die im Lande kaum bekannten JAK-Aktivisten war für Stalin nicht spektakulär genug, um eine breit angelegte antisemitische Kampagne einzuleiten: "Die plakative, mit alten antisemitischen Stereotypen spielende Beschuldigung der Verschwörung jüdischer Mörder-Ärzte gegen die Sowjetführung und das ganze sowjetische Volk war für solche Zwecke sicher geeigneter." (487)
Neben der Schilderung des Schicksals des JAK bildet den anderen roten Faden der Studie die Analyse der zunehmenden Entfremdung zwischen den sowjetischen Juden und dem sowjetischen Regime, die nach 1941 zu beobachten war. Grüner nennt folgende Faktoren, die zu dieser Entfremdung beitrugen: Die stillschweigende Duldung des alltäglichen Antisemitismus durch die sowjetischen Behörden. Die Tendenz der sowjetischen Medien, die jüdische Tragödie, die sich auf den von den Nationalsozialisten besetzten sowjetischen Gebieten abspielte, zu verschweigen und schließlich die zunehmende Stigmatisierung der Juden infolge der "antikosmopolitischen" Kampagne des Regimes. All diese Faktoren hätten die Loyalität der sowjetischen Juden gegenüber dem eigenen Staat erschüttert und zugleich ihr Zusammengehörigkeitsgefühl verstärkt. Diese durchaus nachvollziehbaren Gedankengänge werden indes durch eine Schlussfolgerung des Verfassers ergänzt, die recht befremdlich klingt. Er spricht nämlich nicht nur von einem wachsenden Zusammengehörigkeitsgefühl und Nationalbewusstsein der sowjetischen Juden, sondern auch von ihrem immer stärker werdenden Nationalismus. Grüner ist sich der Fragwürdigkeit dieser These durchaus bewusst, er weiß, dass auch die stalinistischen Funktionäre während der antisemitischen Kampagne mit einem solchen Argument operierten. Dessen ungeachtet hält er an seiner These fest. Wenn man bedenkt, dass es sich beim Nationalismus in der Regel um eine Überhöhung der eigenen und Abwertung anderer Nationen handelt, sind die Beweise, die Grüner anführt, um seine These zu begründen, recht dürftig. Er schreibt: "Wie anders als 'national', 'nationalistisch' [...] ließen sich das in zahlreichen Äußerungen dokumentierte 'nationale Erwachen' der sowjetischen Juden, ihre Sehnsucht nach einer eigenen selbstbestimmten nationalen Existenz, das die Grenzen des Sowjetstaates überschreitende Gefühl der inneren Verbundenheit und Zusammengehörigkeit aller Juden in einem Volk [...] bezeichnen?" (222)
All das, was Grüner hier beschreibt, zeugt keineswegs von einer nationalistischen Verirrung, sondern von einem jüdischen Streben nach Normalität, nach Beendigung eines anormalen, zwei Jahrtausende dauernden schutz- und staatenlosen Daseins, das die Verfolger der Juden dazu anstachelte, noch aggressiver gegen sie vorzugehen.
Wenig überzeugend ist auch die These des Autors, die immer radikaler werdende antijüdische Politik des stalinistischen Regimes habe ihre Ursache in den Ängsten der Machthaber vor dem wachsenden Nationalbewusstsein der Juden gehabt. Sie hätten also im Wesentlichen reagiert und nicht agiert. Dieses Erklärungsmodell lässt die Tatsache außer Acht, dass zum Wesen der totalitären Regime die Konstruktion einer Pseudowirklichkeit gehört, in der die wahren Sachverhalte buchstäblich auf den Kopf gestellt werden. Als die stalinistische Führung eine Art Endzeitstimmung im Lande verbreitete und die Ängste der Bevölkerung vor den "Kosmopoliten", d.h. vor den Juden, schürte, war sie sich mit Sicherheit darüber im Klaren, dass die "kosmopolitische" bzw. "zionistische" Gefahr, die die Sowjetunion angeblich in ihren Grundfesten zu erschüttern drohte, in Wirklichkeit nicht bestand. Und in der Tat: Welche Gefahr konnte von der schutzlosen, im Lande verstreuten, von ihrer Umgebung isolierten und oft angefeindeten jüdischen Minderheit für die zweitstärkste Militärmacht der Welt ausgehen?
Neben einigen anfechtbaren Thesen enthält die Studie auch ein gewisses strukturelles Defizit. Da der Autor bestimmte Fragestellungen aus zwei verschiedenen Blickwinkeln erörtert - aus der Sicht der sowjetischen Juden wie auch aus derjenigen des Regimes -, wobei beide Aspekte schwer voneinander zu trennen sind, entstehen im Buch zahlreiche Wiederholungen. Eine straffere Bündelung bestimmter Themenkomplexe wäre dieser Arbeit sicher zugute gekommen.
Skepsis rufen auch manche Aussagen des Autors bezüglich des Stalinbildes der sowjetischen Juden und der sowjetischen Bevölkerung allgemein hervor. Er schreibt: "In den dreißiger Jahren war Stalin, wenn man dies auch mit einer gewissen Vorsicht konstatieren sollte, in großen Teilen der [sowjetischen] Bevölkerung beliebt." (132) Oder: "Neben einer zweifellos breiten Unterstützung in der Bevölkerung gab es auch gleichgültige und kritische Haltungen gegenüber Führer und System." (134) Wenn man bedenkt, dass zu Beginn der 1930er Jahre etwa 80 Prozent der sowjetischen Bevölkerung auf dem Lande lebte, wo die Kollektivierung der Landwirtschaft stattfand, die einige russische Historiker als das größte Verbrechen Stalins bezeichnen, entzieht dies allein der These Grüners von der Beliebtheit Stalins "in großen Teilen der sowjetischen Bevölkerung" wohl ihre Grundlage. Da zu den Opfern des stalinistischen Terrors in den 1930er Jahre neben den Bauern auch unzählige Vertreter der städtischen Mittelschichten, der Intelligenz, der nationalen Minderheiten und schließlich der sowjetischen Machtelite zählten, ruft die These von einer "breiten Unterstützung" des sowjetischen Diktators zusätzliche Zweifel hervor.
Trotz all dieser kritischen Einwände muss man hervorheben, dass es sich bei dieser Arbeit um eine gründlich recherchierte Studie handelt, die auf einer ungewöhnlichen Fülle von Primär- und Sekundärquellen basiert. Nicht zuletzt deshalb gelingt es dem Autor, einige "dunkle" Kapitel eines außerordentlich komplizierten und auf den ersten Blick verworrenen Themenkomplexes zu erhellen und manche offenen Fragen zu beantworten.
Anmerkung:
[1] Shimon Redlich: Propaganda and Nationalism in Wartime Russia: The Jewish Antifascist Committee in the USSR, 1941-1948, Boulder 1982; Shimon Redlich / Gennadij Kostyrčenko (Hg.): Evrejskij Antifašistskij Komitet v SSSR. Dokumentirovannaja istorija, Moskau 1996; Gennadij Kostyrčenko: V plenu u krasnogo faraona. Političeskie presledovanija evreev v poslednee stalinskoe desjatiletie. Dokumental´noe issledovanie, Moskau 1994; ders.: Tajnaja politika Stalina. Vlast´i antisemitizm, Moskau 2001; siehe dazu auch Vladimir Naumov: Nepravednyj sud. Poslednij stalinskij rasstrel. Stenogramma sudebnogo processa nad členami evrejskogo antifašistskogo komiteta, Moskau 1994.
Leonid Luks