Helga Grebing: Willy Brandt. Der andere Deutsche, München: Wilhelm Fink 2008, 182 S., ISBN 978-3-7705-4710-4, EUR 19,90
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An wissenschaftlichen Studien über den ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik, Willy Brandt, herrscht kein Mangel: Im Zuge der Öffnung des Nachlasses im Willy-Brandt-Archiv und der gelungenen Edition seiner Briefe, Reden und Texte in der zehnbändigen "Berliner Ausgabe" der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung [1] entstanden mehrere gewichtige Werke, darunter die konzise Darstellung des Mitherausgebers der "Berliner Ausgabe" Gregor Schöllgen [2], die große Biografie über den "Visionär und Realisten" von Peter Merseburger [3] oder Daniela Münkels Studie über Brandt und die Medien. [4] Helga Grebing, emeritierte Geschichtsprofessorin, frühere Leiterin des Instituts zur Erforschung der Europäischen Arbeiterbewegung und Mitherausgeberin der "Berliner Ausgabe", entwirft nun ihr eigenes Bild von Willy Brandt. Dass das Porträt auch auf persönlichen Eindrücken basiert, unterstreicht das Vorwort, in dem sich Grebing an die erste Begegnung mit Brandt 1949 erinnert: "Irgendwie, so erinnere ich mich an mein damaliges Empfinden, wurde der dunkel-muffige Raum heller, und der sogleich beeindruckende Mann vermittelte in seiner kurzen Rede Zuversicht auf eine ganz andere Zukunft, an der auch wir mitarbeiten wollten." (7) Grebing zeigt in ihrem Porträt eine erkennbare Sympathie für den Protagonisten, was die kritische Einordnung von Ideen und Handlungen Brandts mitunter erschwert.
Die Autorin konzentriert sich weitgehend auf die ideelle Entwicklung des Politikers und Sozialdemokraten Brandt vom Exil über die prägenden Berliner Jahre, den langjährigen Parteivorsitz und die Kanzlerschaft bis zum elder statesman der 1980er Jahre. Leitbilder und Grundüberzeugungen des Politikers Brandt analysiert sie anhand zentraler Texte aus der "Berliner Ausgabe" und unveröffentlichter Schriften und Reden Brandts. Leitmotivisch spricht sie von Brandt als dem "anderen Deutschen", angelehnt an das Bild, das den Widerstand gegen den Nationalsozialismus kennzeichnete. Schon der junge Brandt habe durch die politische Arbeit in Norwegen, Schweden, im Spanischen Bürgerkrieg und in der höchst gefährlichen Untergrundtätigkeit im NS-Staat weitreichende Erfahrungen und Erkenntnisse gewonnen: "Wohl kein deutscher Politiker im 20. Jahrhundert hatte, noch dazu in so jungen Jahren, ein vergleichbares Ausmaß an reflektierten grundsätzlichen Auffassungen und politischen Erfahrungen aufzuweisen wie Willy Brandt. Und dies war es, was ihn bereits jetzt zu einem ganz anderen Deutschen machte." (47) Von Berlin aus habe der junge Brandt dann seinen eigenen Kurs verfolgt, der in der SPD-Führung um Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer nur schrittweise mehrheitsfähig wurde. Grebings Analysen drehen sich um zwei Hauptaspekte: Zum einen entwickelte Brandt, der für die linksrevolutionäre Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) ins Exil gegangen war, durch die skandinavische Erfahrung und die zunehmende Distanz zur Sowjetunion spätestens mit dem Hitler-Stalin-Pakt ein demokratisches Verständnis von Sozialismus, welches - und dies betont Grebing - zutiefst freiheitlich gedacht war: Brandts Ziel wurde die "Schaffung eines 'anderen Deutschlands'; er wollte die Weichen dafür stellen, dass sich die Bundesrepublik des obrigkeitsstaatlichen Ballasts der Vergangenheit entledigt." (19) In der "aufgeklärte[n] Zivilgesellschaft von Freien und Gleichen" (64) sollte das Individuum mit seinen Entwicklungsmöglichkeiten im Mittelpunkt stehen und Demokratie als Prozess verstanden werden: Demokratisierung als "Erweiterung der Autonomie des Einzelnen, Emanzipation von nicht mehr legitimierbarer Herrschaft, erweiterte Formen der Beteiligung von immer mehr Bürgern an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen" (68) summierten sich zu Brandts politischem Credo. Zum anderen war Brandt für Grebing "ein international orientierter, freiheitsliebender demokratischer Sozialist europäischer Prägung und gewiss auch emotionaler Bindung an die deutsche Kulturnation als Ausdruck seiner, einer anderen Vaterlandsliebe." (119) In dieser doppelten Identität eines deutschen Patrioten, der im Exil auch eine tief reichende europäische Selbstwahrnehmung ausgebildet habe, sieht Grebing die Wurzeln der 'Neuen Ostpolitik'. Diese habe sich in ihren Grundzügen - hier greift sie Wolfgang Schmidts Thesen auf [5] - schon vor dem Mauerbau formiert. Aus dem anderen Nationsverständnis Brandts erklärt Grebing auch Brandts Verweise auf die Wiedervereinigung als "Lebenslüge" der zweiten deutschen Republik in den 1980er Jahren: Nicht die staatliche Einheit von Bundesrepublik und DDR habe Brandt hier gemeint, sondern eine Orientierung am Reich Bismarck'scher oder Wilhelminischer Prägung. Grebing betont stärker als andere Biografen die europäische Komponente in Brandts Denken: Zwar bestätigte die Wiedervereinigung seine Politik, doch "sein großes Ziel des Zusammenwachsens Europas" (120) habe Brandt nicht mehr erreicht. Insofern grenzt sie sich von Brigitte Seebachers Interpretation ab, die in ihrem Porträt Brandt in nationalen Denkkategorien verankert sah. [6]
Nur knapp geht Grebing auf Brandts welt- und entwicklungspolitische Anschauungen und Initiativen der späten 1970er und 1980er Jahre ein: Als Präsident der Sozialistischen Internationale und Vorsitzender der sogenannten Nord-Süd-Kommission erfuhr sein weltpolitisches Denken eine Schwerpunktverlagerung von der Ost-West- zur Nord-Süd-Perspektive. Brandt demonstrierte hier erneut seine Fähigkeit, als "Gefühlspolitiker" fast seismografisch neue gesellschaftspolitische und internationale Probleme aufzuspüren. Neue Wege ging Brandt ebenso, indem er die SPD für die 'Neuen Sozialen Bewegungen' der 1970er und frühen 1980er Jahre zu öffnen versuchte und hierbei Aspekte wie Ökologie und Lebensqualität ins Spiel brachte. Nicht nur in diesem Zusammenhang kommen Veränderungen und Ambivalenzen in Brandts Ideenwelt etwas kurz: Grebing betont die "Kontinuität im Denken Willy Brandts" (115) seit der Rückkehr aus dem Exil und geht auf innere Zielkonflikte - wie jenen zwischen Sicherheit und Freiheit in der sogenannten zweiten Ostpolitik der SPD in den 1980er Jahren - kaum ein. Alles in allem legt die Autorin ein sachkundiges Porträt ihres Protagonisten vor, mit dem sie sympathisiert, wobei sie mit der Schwerpunktsetzung auf die ideelle Entwicklung Brandts durchaus neue Akzente zu setzen weiß.
Anmerkungen:
[1] Willy Brandt: Berliner Ausgabe, hrsg. im Auftrag der Bundeskanzler Willy-Brandt-Stiftung von Helga Grebing / Gregor Schöllgen / Heinrich August Winkler, 10 Bde., Bonn 2000ff.
[2] Gregor Schöllgen: Willy Brandt. Die Biographie, Berlin 2001.
[3] Peter Merseburger: Willy Brandt. 1913-1992. Visionär und Realist, München 2002.
[4] Daniela Münkel: Willy Brandt und die "'Vierte Gewalt". Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt am Main 2005.
[5] Wolfgang Schmidt: Kalter Krieg, Koexistenz und kleine Schritte. Willy Brandt und die Deutschlandpolitik 1948-1963, Wiesbaden 2001.
[6] Brigitte Seebacher: Willy Brandt, München 2004.
Elke Seefried