Gerd Dethlefs / Jürgen Kloosterhuis (Bearb.): Auf kritischer Wallfahrt zwischen Rhein und Weser. Justus Gruners Schriften in den Umbruchsjahren 1801-1803 (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz; Bd. 65), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2009, XLVI + 664 S., ISBN 978-3-412-20354-2, EUR 49,90
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Die intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit der Säkularisation der Jahre um 1803 lenkte den Blick auch auf die Publizistik jener Zeit. In ihrem Mainstream handelte es sich dabei um Veröffentlichungen, die sich gegenüber den Klöstern und den geistlichen Staaten des Alten Reichs kritisch äußerten und ihnen Rückständigkeit vorwarfen. Gerade die Reiseliteratur aus der Feder aufgeklärter Autoren vornehmlich des norddeutschen Raums enthält eine Fülle von Beispielen selektiver Wahrnehmung religiösen Lebens und kirchlicher Organisation. Die Forschungen der letzten Jahre haben manche pauschalen Be- und Verurteilungen als einseitig erwiesen und auf Modernisierungs- und Reformbestrebungen in den die kulturelle Vielfalt des Alten Reiches bereichernden Geistlichen Staaten hingewiesen.
In der Reihe eines aufgeklärten Veränderungsoptimismus stehen auch die beiden in einer musterhaften Edition von Gerd Dethlefs und Jürgen Kloosterhuis vorgelegten Werke Justus Gruners (1777-1820). Gewissermaßen als Entrée in den preußischen Staatsdienst absolvierte Gruner im Jahr 1800 eine viermonatige Westfalenreise, die er literarisch verarbeitete. Nach einer raschen Karriere als preußischer Beamter, auf deren Höhepunkt er der Chef aller preußischen Polizeiorgane war, musste er 1812 den Dienst quittieren. Nach der endgültigen Niederlage Napoleons wurde er kurzzeitig Leiter der Generalgouvernements Herzogtum Berg und Mittelrhein. Seit 1816 war Gruner preußischer Botschafter in Bern.
Bei dem ersten der beiden edierten Werke handelt es sich um eine Denkschrift mit dem Titel "Skizze des jetzigen Zustandes des geistlichen Westphalens und einiger Verbesserungsvorschläge zur höheren sittlichen und einträglicheren bürgerlichen Kultur desselben" (1-116). Gruner ist der Meinung, Westfalen könne eine der reichsten Provinzen sein, was durch die geringe Bevölkerung, schlechte Bodenkultur und Handelsbilanz sowie den Mangel an Geldumlauf und Luxus verhindert werde. Er schlägt vor, die Staatsverfassung und die Staatsverwaltung zu verbessern. Unter anderem fordert Gruner Säkularisationen, um die gesamte Provinz unter eine einheitliche Regierung zu bringen. Gruner ist jedoch vorsichtig und sieht im Aussterben der Klöster "das sicherste und anständigste Mittel zu ihrer Einziehung" (52). Wie er den Klöstern sittliche und geistige Rückständigkeit vorwirft, so auch überhaupt den Geistlichen. Deshalb müsse die Akademie in Münster mit aufgeklärten Theologen besetzt werden. Sein Ziel: "Aus den Trümmern der Intoleranz und Indolenz wird sich unter dem wohlthätigen Schutze einer weisen Regierung Aufklärung, Duldung und Licht erheben, dessen segnende Strahlen auf das Volck aufklärend zurückwircken und es allmählig zur wahren Sittlichkeit führen werden." (53) Gruners Vorschläge zeugen von großer Kenntnis der lokalen Verhältnisse, aber auch von einer klaren wirtschaftsliberalen Position. Er argumentiert als preußischer Patriot und Protestant, für den Aufklärung und Toleranz den höchsten Stellenwert besitzen.
Das zweite Werk, 1802 in Frankfurt publiziert, trägt den Titel "Meine Wallfahrt zur Ruhe und Hoffnung oder Schilderung des sittlichen und bürgerlichen Zustandes Westphalens am Ende des achtzehnten Jahrhunderts". Die zwei Bände basieren auf den von Gruner auf seiner Bildungsreise zwischen Osnabrück und Düsseldorf gewonnenen Eindrücken. Vom literarischen Genre her schwankt die "Wallfahrt" zwischen einem Reisebericht und einem Roman. Gruner hat also neben seinem Interesse aufzuklären auch einen literarischen Anspruch und sieht sich in einer Reihe mit Autoren anderer Bildungsromane.
Aus der Fülle der Themen seien einige Aspekte herausgegriffen. Gruner sieht in der nicht-dynastischen Regierung der Fürstbistümer einen Grund für ihre desolate wirtschaftliche Situation. "Unter dem finstern Schatten des Krummstabes" (164) erstrecke sich eine "verderbliche geistliche Indolenz" (165). Dieses negative Urteil über Paderborn revidiert Gruner in Münster, bei dessen Bewohnern er ihre Geselligkeit und vor allem die Freude am Tanz rühmt. Seine Forderung in einer Stadt, in der er unter anderem die Sauberkeit des Hospitals der Barmherzigen Brüder beachtenswert findet: "Macht die Religion ehrwürdig dem Guten und dem Vernünftigen, nicht lächerlich durch leere Zeremonien und hehre Worte! Stellt sie dar in ihrer Urschönheit und Reinheit - und ihr göttlicher Sieg ist entschieden!" (275) Denn wirkliche Verbesserungen können nach Gruners Meinung auch in Münster nur Einzug halten, wenn das Hochstift aufgehoben wird. Denn die Fürstbischöfe würden nur ihren eigenen Interessen folgen, ohne auf Nachhaltigkeit zu achten. Lange lässt sich Gruner über die nach ihrer Vertreibung aus der Schweiz in Darfeld angesiedelten Trappisten aus, wobei ihn neben Ironie über den strengen Lebensstil vor allem die Sorge um die Kindermönche bedrückt.
Gruner beschließt seine "Wallfahrt" durch Westfalen mit der Versicherung, unermüdlich "für Wahrheit, Recht und Sittlichkeit" (431) wirken zu wollen. Doch genau das nahmen ihm seine Kritiker nicht ab. Im Dortmunder "Westfälischen Anzeiger" erschien in den Jahren 1802 und 1803 eine Serie von Gegendarstellungen zu den von Gruner gezeichneten Miniaturen einzelner westfälischer Orte. Gruner selbst nahm wiederholt dazu Stellung. Der Verleger, Philipp Heinrich Guilhauman, warb nicht nur mit der Widmung an die Königin von Preußen, sondern meinte auch, das Werk "dürfte bey den eintretenden Sekularisationen in Westfalen, vorzügliche Beherzigung und Anwendbarkeit verdienen" (453).
Den Bearbeitern der Edition ist zu danken, dass sie mit den beiden Werken Justus Gruners sowie den Reaktionen darauf eine wichtige Quelle zum Umfeld der Säkularisation von 1803 vorgelegt haben. Die Erschließung gedruckter und ungedruckter Denkschriften und Reiseberichte trägt wesentlich zum besseren Verständnis der Atmosphäre bei, in der das Ende des Alten Reiches ohne große Widerstände vonstatten ging. Am Anfang war also nicht nur Napoleon.
Joachim Schmiedl