Sarah Schädler: "Justizkrise" und "Justizreform" im Nationalsozialismus. Das Reichsjustizministerium unter Reichsjustizminister Thierack (1942-1945) (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts; 61), Tübingen: Mohr Siebeck 2009, XII + 376 S., ISBN 978-3-16-149675-2, EUR 74,00
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Nichts Geringeres als eine Geschichte des Reichsjustizministeriums unter Otto Georg Thierack hat Sarah Schädler zum Thema ihrer juristischen Dissertation gewählt. Lothar Gruchmann hatte seine fundamentale Studie zur Justiz im 'Dritten Reich' unter Hitlers erstem Justizminister, dem Deutschnationalen Franz Gürtner, in das begriffliche Spannungsfeld von Anpassung und Unterwerfung gestellt. [1] Auch Sarah Schädler betitelt ihre Studie mit einem Begriffspaar, dem von "Justizkrise" und "Justizreform". Schädler setzt ihre Leitbegriffe allerdings in Anführungszeichen, denn sie sind dem zeitgenössischen Sprachgebrauch entnommen. "Justizkrise" bezeichnet die zugespitzte Justizkritik von SS und Parteiinstanzen der Jahre 1941/42, die in Hitlers Rede vor dem nationalsozialistischen Reichstag am 26. April 1942 mit ihrer wilden Richterschelte mündete und zur anschließenden "Ermächtigung" des "Führers" zur Absetzung nicht ausreichend linientreuer Richter führte. Die "Krise", so Schädler, sei eine Inszenierung gewesen und nicht als Beleg für eine widerständige Justiz zu deuten. Die Folge war ein Revirement im Justizapparat. Staatssekretär Schlegelberger, der nach dem Tod Gürtners das Justizministerium kommissarisch verwaltet hatte, wurde in den Ruhestand verabschiedet, Staatssekretär Freisler wurde Präsident des Volksgerichtshofs und sein Vorgänger in diesem Amt, Otto Georg Thierack, Justizminister. Als Staatssekretär wurde ihm der Präsident des Hamburger Oberlandesgerichts, Curt Rothenberger, zugesellt. Mit Thierack und Rothenberger standen erstmals zwei Nationalsozialisten mit Stallgeruch an der Spitze des Ministeriums. Letzterer musste wegen einer Plagiatsaffäre Ende 1943 seinen Sitz räumen und wurde durch Thieracks engen Vertrauten Herbert Klemm ersetzt.
Thierack wurde im August 1942 per Führererlass beauftragt, eine "nationalsozialistische Rechtspflege" aufzubauen. Die daraus resultierenden "Reform"-Versuche bilden den Hauptgegenstand von Schädlers Studie, die versucht, die bisherige Forschung neu zu akzentuieren, welche Thieracks Amtszeit als die "extremste Phase des Ausverkaufs der Justiz" (Martin Broszat) und die von ihm verfolgten Reformprojekte für im Wesentlichen gescheitert erachtet. Thierack sei durchaus eine starke politische Figur gewesen, meint die Autorin. Wo er Justizkompetenzen abgegeben habe, sei das im Einklang mit eigenen Überzeugungen gestanden. Im Übrigen sei von den Reformen einiges umgesetzt worden. Das, so ist einzuwenden, betrifft allerdings eher die kosmetischen, propagandistischen und "gefolgschaftspsychologischen" Teile, wie etwa zahlreiche Inspektionsreisen, die "Richterbriefe", die die Justizjuristen auf Linie bringen sollten, und verschärfte Berichtspflichten. Alle Pläne für eine neue Gerichtsverfassung blieben Makulatur. Weder aus den dem englischen Friedensrichteramt nachempfundenen "Schöffenrichtern" wurde etwas noch aus dem geplanten neuen Richtergesetz, auch nicht aus dem menschenverachtenden "Gemeinschaftsfremdengesetz". Schädlers Versuche, all diesen Projekten mehr Substanz zuzuschreiben, als sie tatsächlich hatten, überzeugen umso weniger, als die Autorin die justizielle Realität nur sehr unzureichend erfasst. Sie hat sich zwar mit enormem Aktenfleiß durch die papierene Hinterlassenschaft des Justizministeriums gewühlt, leider aber auch mit enormer Aktengläubigkeit und mangelhafter historischer Orientierung.
So fehlt eine präzise Erklärung dafür, wie es zu der immer wieder bemühten "Kriseninszenierung" kam und wozu sie notwendig war. Der allgemeine Verweis auf Hitlers Juristenhass und Kompetenzkämpfe innerhalb des Regimes ist hier unzureichend. Auch stößt man schon auf den ersten Seiten des Buches auf einige irritierende Einschätzungen, so wenn es auf Seite 21 zur Justizkritik der Weimarer Republik heißt: "Urteile gegen sozialdemokratische oder kommunistische Gesetzesbrecher empfanden Sozialdemokraten und Kommunisten häufig um einiges härter als jene gegen konservative und nationale Täter der gleichen Straftaten. Nach der 'Machtübernahme' durch die Nationalsozialisten wurde dagegen die Milde der Strafurteile gegen nationalsozialistische Staatsfeinde gerügt." Das, so die Autorin, belege "die Instrumentalisierung von Argumenten für die jeweilige politische Richtung". Was hier eigentlich gemeint ist, ist schwer zu erschließen. Jedenfalls ging es bei der Kritik an der Rechtslastigkeit der Weimarer Justiz nicht um irgendwelche Straftaten, sondern um die politische Justiz. Und die Kritik beruhte nicht auf "Empfindungen", wie die Autorin meint, sondern unter anderem auf den statistischen Untersuchungen von Emil Julius Gumbel. Die Verfassungspartei SPD und die Diktaturpartei KPD einfach zusammenzuwerfen, verkennt völlig deren Positionen und Handlungsweisen. Vollkommener Unfug ist die Ansicht, nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten habe es so etwas wie "milde Urteile gegen nationalsozialistische Staatsfeinde" gegeben. Was es gab, waren einerseits Amnestien für nationalsozialistische Gewalttäter und Mörder und andererseits die Ermordung der zu "Staatsfeinden" erklärten SA-Führer um Ernst Röhm 1934.
Eine weitere Sachverhaltsverdrehung findet sich kurz darauf auf Seite 27, wo ausgerechnet die taktisch motivierte Ablehnung der Hamburger NSDAP von 1931, den damals als Kandidaten für das Reichsgericht gehandelten Juristen Curt Rothenberger als Mitglied aufzunehmen, als ein Beleg für die angebliche richterliche Zurückhaltung bei politischen Bekenntnissen angeführt wird. Tatsächlich wollte Rothenberger ein politisches Bekenntnis abgeben, aber den Hamburger NS-Funktionären schien es zu diesem Zeitpunkt passender, ihr U-Boot in der Justiz untergetaucht zu lassen. [2] Immer wieder greift Schädler auch zur Charakterisierung der Verhältnisse in der NS-Justiz völlig unkritisch auf Aussagen von Angeklagten im Nürnberger Juristenprozess zurück.
Den Gipfel der Desorientierung aber bildet die Feststellung im Fazit: "Das Justizministerium unter Thierack hat zwar politisch radikaler gehandelt, ist dabei aber nicht zum Verwalter von willkürlichen und nicht nachvollziehbaren Maßnahmen geworden." (336) Man muss der Autorin zugutehalten, dass sie an einigen Stellen auf die totalitäre und verbrecherische Natur der NS-Justizpolitik hinweist, aber sie nimmt diese nicht wirklich konsequent ins Visier. So befasst sie sich nur auf wenigen Seiten mit der von Thierack und Himmler im September 1942 vereinbarten Überstellung von circa 24.000 Justizstrafgefangenen (Juden, Zigeuner, Russen, Ukrainer, Polen mit einem Strafmaß über drei oder Tschechen und Deutsche mit einem Strafmaß über acht Jahre) in die KZs zur "Vernichtung durch Arbeit", weil diese Maßnahme "nicht ganz in den gesetzgeberischen Kontext passen will, da sie unter Umgehung von Gesetzen auf dem Anordnungs- und Erlaßwege erfolgte". Unwillkürlich sucht man im Literaturverzeichnis nach dem Namen Ernst Fraenkel, um zu prüfen, ob die Autorin schon einmal dem Begriff "Doppelstaat" begegnet ist. Das Ergebnis: Fehlanzeige, ebenso bei der Suche nach Nikolaus Wachsmanns grundlegender Studie über den nationalsozialistischen Strafvollzug, der sich mit den Überstellungen erstmals ausführlich befasst und auch das grausame Schicksal der 24.000 - nicht wie Schädler schreibt: 15.000 - Betroffenen in den KZs untersucht hat. [3] Schädler geht auf dieses massive Justizverbrechen nur sehr kursorisch ein und bleibt auch hier einmal mehr der Kanzleiperspektive verhaftet.
Am Ende bestätigt sich das Gefühl, dass die Anführungszeichen im Titel zugleich als Warnzeichen zu lesen sind. Sie signalisieren, dass die Autorin ihre Schlüsselbegriffe unreflektiert aus der Sprache ihrer Quellen übernommen und keine eigenen analytischen Kriterien entwickelt hat. Den historischen Kenntnishintergrund, dessen es dazu bedürfte, hat sie ganz offenkundig nicht. Nur so ist auch ihr mehr als fragwürdiger Befund erklärbar, das Justizministerium müsse "als ein wichtiges Ordnungszentrum am Ende des 'Dritten Reichs' gesehen werden." (336)
Anmerkungen:
[1] Lothar Gruchmann: Justiz im Dritten Reich. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, 3., verb. Auflage München 2002.
[2] Susanne Schott: "Curt Rothenberger - eine politische Biographie", Diss. jur. Halle (Saale) 2001, 59ff.
[3] Nikolaus Wachsmann: Hitler's Prisons. Legal Terror in Nazi Germany, New Haven 2004. Deutsch: Gefangen unter Hitler, München 2006.
Jürgen Zarusky