Hans-Peter Riese: Kunst: Konstruktiv / Konkret. Gesellschaftliche Utopien der Moderne, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2008, 272 S., ISBN 978-3-422-06830-8, EUR 39,90
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Die Uneinheitlichkeiten und Widersprüche bei der begrifflichen Fixierung abstrakter geometrischer Kunst der Moderne sind weithin bekannt. Berühmt ist das Beispiel Theo van Doesburgs, der 1930 den Begriff der Abstrakten Kunst durch jenen der Konkreten Kunst ersetzen wollte. Der De Stijl-Künstler griff damit auch die Divergenz zwischen Kunst und Wirklichkeit an, insofern das Kunstwerk selbst als ein neues Stück konstruierter Realität zu gelten habe. [1] Bis heute können in diesem Kontext verschiedene Begriffe vergleichbare künstlerische Strategien bezeichnen. Gleichzeitig werden verschiedenste, wenn nicht gar entgegengesetzte Positionen und Strömungen unter einem Begriff subsumiert. Hans Peter-Riese wählt in seiner Publikation zur "Konstruktiven / Konkreten Kunst" die unklare begriffliche Situation als Ausgangspunkt, diesen Teil der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts in Erinnerung zu rufen. Dabei geht der Autor nicht in erster Linie von der künstlerischen Produktion aus, sondern von ihrer theoretischen Begründung. Es ist dieser Ansatz, der die Studie angesichts der breit gefächerten Literatur zum Thema rechtfertigt. Der Fokus auf Künstlertheorien, die im Kontext der konstruktiven Tendenzen der Moderne besonders zahlreich sind, ermöglicht es dem Autor unikale und utilitaristische Ansätze präzise herauszuarbeiten und gegeneinanderzustellen, um ein enormes Spektrum der künstlerischen und gesellschaftspolitischen Ansprüche aufzufächern. Der Bogen, den Hans-Peter Riese dabei spannt, reicht von den ersten russischen Suprematisten und Konstruktivisten der 1910er- und 1920er-Jahre über De Stijl und Bauhaus bis zu den Zürcher Konkreten mit Ausblicken in die Konkrete Kunst der 1950er- und 1960er-Jahre und in die amerikanische Minimal Art.
An den Beginn stellt Riese den Versuch einer Rekonstruktion der Begrifflichkeit der konstruktiven Kunst. In einer Art philosophischer Vorbetrachtung werden hier Ideen angesprochen, die vom Kollektivierungsgedanken der künstlerischen Arbeit über die gesellschaftliche Funktionalisierung der Konkreten Kunst bis zu den Begriffen ihrer Identität und Selbstbezüglichkeit reichen. Abfolge und Beziehung der verhandelten Theoreme und Autoren sind hier jedoch mitunter nur schwer nachvollziehbar. Den historischen Entwicklungsbogen, der im weiteren Verlauf des Buches für mehr Übersichtlichkeit sorgen wird, hat Riese hier noch nicht aufgenommen. Mit der Engführung der theoretischen Postulate auf die gesellschaftliche Relevanz der konstruktiven und konkreten Kunst unterlegt Riese der folgenden historischen Betrachtung der verschiedenen Tendenzen und Strömungen dieser Kunst einen Parameter, den er konsequent durchhält. Es ist diese thematische Zusammenschau, die Rieses Untersuchung einen eigenen Blickpunkt verleiht. Während zunächst die Gemeinsamkeiten und späteren Widersprüche der De Stijl-Künstler Mondrian und Van Doesburg vor diesem Hintergrund verhandelt werden, liest sich das Buch bald über weite Strecken als Geschichte der russischen und osteuropäischen konstruktivistischen Bewegung. So sind diesem Bereich allein die Kapitel 3-5 und große Teile der Kapitel 6, 8 und 9 (von insgesamt 11) und damit etwa die Hälfte der knapp 240 Seiten umfassenden Publikation gewidmet. Der Autor selbst begründet dieses Übergewicht mit dem Hinweis darauf, dass "[...] viele Quelle zu diesem künstlerischen Aufbruch nur in Russisch zugänglich [sind] und in der westlichen Wissenschaft nur unzureichend rezipiert [...]" (8) worden seien. Neben ihrer Entwicklung schildert Riese detailliert die Spannungen innerhalb der russischen Avantgarde. Malewitsch als führender Suprematist und Tatlin als führender Konstruktivist verkörpern diesen Konflikt, der sich wiederum an der Grenzlinie von künstlerischer Selbstbehauptung und der gesellschaftlichen Überwindung der Kunst abzeichnet. Es wird dabei zu einem Anliegen Rieses, die Vorbehalte der Ideologisierung, die insbesondere der russischen Avantgarde entgegengebracht wurden, wenn nicht aufzulösen, so doch im europäischen Kontext - im Hinblick auf Länder wie Holland, Polen oder Ungarn, wo vergleichbare politische Ideen formuliert wurden - zu relativieren.
Dass Riese dem Bauhaus dann im Vergleich mit den russischen Kunstschulen WChUTEMAS und INChUK ein rückwärtsgewandtes Künstlerbild attestiert, schafft keine tiefere Einsicht, sondern ist vielmehr ein Beispiel für die Redundanzen, die eine solche übergreifende Zusammenschau mit sich bringen. Denn obwohl die Stärken des Buches in der detaillierten und differenzierten Schilderung liegen, kommt Riese doch nicht umhin, immer wieder Zusammenhänge auszuführen, die kunsthistorisch als bekannt vorausgesetzt werden dürfen. Das rückt die Arbeit zumindest phasenweise in die Nähe populärwissenschaftlicher Publikationen. Bei der Darstellung des Konstruktivismus als europäische Bewegung mit Schwerpunkten bei Lissitzky, Berlewi, Moholy-Nagy und Strzeminski fällt auf, dass zwar die Drehscheibe Berlin eingehend thematisiert wird, Hannover mit Konstruktivisten wie Vordemberge-Gildewart oder Buchheister aber ausgespart bleibt. Dass der Paradigmenwechsel, mit dem sich im Laufe der 1930er-Jahre die konstruktivistischen Utopien auflösen, vor allem an Max Bill und Richard Paul Lohse exemplifiziert wird. ist in Anbetracht der theoretischen Grundlagen, die die Zürcher Konkreten - und vor allem Lohse - liefern, nachvollziehbar. Lohses Begriff der "analogen" Strukturen in Kunst und Gesellschaft führt hier zu einem neuen, auf Erkenntnis ausgerichteten Verständnis der Nicht-Mimetischen Kunst. Zwar lässt Riese die Kunsttheorie mit Max Bense, Dietrich Mahlow und anderen ausgiebig zu Wort kommen, dass aber in seiner Abhandlung der Bochumer Kunsthistoriker Max Imdahl, der wie kein Zweiter den anschaulichen Erkenntniswert der konkreten Kunst untersucht und dem universitären Wissenschaftsbetrieb erst geöffnet hat, keinen Platz findet, muss entweder als reine Willkür oder als Unkenntnis bewertet werden. [2] Da Zweitgenanntes im Falle Rieses, der das internationale Kunstgeschehen seit den 1960er-Jahren verfolgt, kaum vorstellbar ist, kann es sich hier nur um einen krassen Bewertungsfehler handeln. Ein vollständiges Literaturverzeichnis hat der Autor aber offenbar auch nicht angestrebt. So wurden beispielsweise weder Camilla Grays "The Russian Experiment in Art 1863-1922" von 1962 berücksichtigt noch der reichhaltige Katalog zur Rekonstruktionsausstellung "K.I.- Konstruktivistische Internationale", die 1992 in der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen stattfand. [3] Rieses lesenswerter, unter theoretische Vorzeichen gestellter Überblick besitzt so doch einen Anflug von Beliebigkeit. Dass der Berliner Kunstverlag auf dem Buchdeckel forsch behauptet, hier würden "zum ersten Mal [...] die geistigen Wurzeln dieser Kunst im internationalen Zusammenhang untersucht", bedarf keiner Kommentierung.
Anmerkungen:
[1] Theo van Doesburg: Base de la peinture concrète und Commentaires sur la base de la peinture concrète, in: Art Concret, No 1, Paris 1930, wiederabgedruckt in: Kunst / Theorie im 20. Jahrhundert. Bd. 1, hg. von Charles Harrison / Paul Wood (engl. Originalausgabe Oxford / Cambridge, 1992), Stuttgart 1998, 442.
[2] Vgl. Max Imdahl: "Is It a Flag, or Is It a Painting?" Über mögliche Konsequenzen der Konkreten Kunst (1969), in: Max Imdahl. Gesammelte Schriften Bd. 1. Zur Kunst der Moderne, hg. von Angeli Janhsen-Vukicevic, Frankfurt am Main, 1996, 131-180.
[3] Camilla Gray: The Russian Experiment in Art 1863-1922, London 1962, und: K.I: - Konstruktivistische Internationale, 1922-1927. Utopien für eine europäische Kultur, hg. von Bernd Finkeldey / Kai-Uwe Hemken / Ulrich Krempel / Maria Müller / Peter Romanus / Rainer Stommer, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1992.
Thomas Janzen