Rolf-Joachim Erler (Hg.): Karl Barth. Gesamtausgabe. Karl Barth - Charlotte von Kirschbaum. Briefwechsel. Bd. I. 1925-1935, Zürich: TVZ 2008, XLVII + 591 S., ISBN 978-3-290-17436-1, EUR 100,00
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Dem Lesen der Korrespondenz anderer Leute haftet oftmals der Eindruck der Indiskretion an, auch wenn es sich in diesem Fall bei dem Verfasser bzw. Adressaten um den vielleicht bedeutendsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts handelt. Vor seinem Tod verfügte Karl Barth, dass sein gesamter Nachlass (mit Ausnahme der Briefe, die er und seine Ehefrau Nelly austauschten) veröffentlicht werden darf, sodass er die Indiskretion gleichermaßen zuließ.
Schon zu Lebzeiten der Autoren des vorliegenden Briefwechsels gab es Gerüchte und Gerede über ihr Verhältnis, die noch dadurch befeuert wurden, dass Charlotte von Kirschbaum als persönliche Sekretärin und Assistentin von Karl Barth seit 1929 mit in den jeweiligen Haushalten der Familie Barth (die Eheleute Barth mit fünf Kindern und Hausangestellten) lebte. Das Verhältnis der Eheleute Barth sowie der beiden Frauen zueinander war naturgemäß nicht spannungsfrei; gleichwohl liegen die drei heute in einem Grab in Basel begraben.
Der Briefwechsel nun umfasst die ersten zehn Jahre, die sich Karl Barth und die dreizehn Jahre jüngere Charlotte von Kirschbaum kannten, und er zeigt "ein merkwürdiges Dokument der 'Barthschen Theologie', völlig einzig in seiner Art", wie es Barth am 28. Februar 1926 (bezogen eigentlich nur auf diesen einen Brief) formulierte (30). Es sind bei Weitem nicht alle Briefe des Briefwechsels erhalten (bis 1931 nur ein Brief von Kirschbaums, aber 90 Briefe Barths - die Jahre 1927 und 1928 sind dabei mit insgesamt drei Briefen jedoch schwach vertreten), aber schon die vorliegende Anzahl (insgesamt 162 Briefe und andere Schriftstücke Barths und 70 Briefe und Schriftstücke Kirschbaums) genügt, um ein Bild der ebenso emotionalen wie rationalen Verbindung beider zu bekommen. Barth selbst scheint nicht zu allen Zeiten gleich interessiert an der Fortführung des Briefwechsels gewesen zu sein, so schreibt er am 20. März 1932: "Ich weiß nicht, Schreiben ist irgendwie überholt zwischen uns, nicht?" (221)
Die Briefe ermöglichen in erster Linie einen Einblick in die Gefühls- und Beziehungswelt Barths, der sich zu Beginn seiner Midlife-Crisis in die theologisch gebildete Rotkreuz-Schwester verliebte, weil er in ihr eine theologische Gesprächspartnerin fand, wie er sie in seiner Ehefrau wohl nicht hatte. Allerdings stellt sich dem Rezensenten und Leser der Briefe die Frage, ob es nötig war, alles Liebesgeflüster einschließlich eines nicht in jeder Hinsicht gelungenen Gedichts vom 12. Juli 1926 (59f.) abzudrucken. Eduard Thurneysen, der engste Freund und Wegbegleiter Barths seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, hatte in seiner Edition des Briefwechsels zwischen ihm und Barth wohlweislich noch auf alle nicht unmittelbar theologische Fragen betreffenden Anteile verzichtet. [1]
Von Kirschbaum, die zu Beginn der Beziehung zwar theologisch interessiert, aber nicht studiert war, vertiefte sich schnell in Barths Denkweise und wurde so tatsächlich zur unentbehrlichen Mitarbeiterin Barths, die nicht nur seine Manu- und Typoskripte in Reinschrift brachte, seinen "Zeddelkasten" [2] pflegte und für ihn einen Teil der Korrespondenzen führte, sondern z.B. auch seine Artikel und Bücher Korrektur las und gegebenenfalls ergänzte (vgl. z.B. 176).
Sieht man von dem Persönlichen ab, das in nahezu allen Briefen eine Rolle spielt und das für die Biografie Barths zweifellos bedeutsam ist, so kommt dem Briefwechsel insbesondere da eine Bedeutung zu, wo es um (Kirchen-)Politik zu Beginn des Nationalsozialismus geht. Neben mehr oder weniger subversiven Späßen Barths - so hat er ein diebisches Vergnügen daran, sich eine "große (zwei Meter lange und breite) gediegene Schweizerfahne" (Brief vom 20. September 1933, 322) zu kaufen, mit der er ab dem Herbst 1933 sein Bonner Haus schmückte - finden sich wesentliche Einschätzungen der politischen Lage in Deutschland, so am 22. März 1933: "Sehe ich doch gerade hier [in Basel, GKH] mit Trauer, wie das Bild von 'Deutschland' draußen nun unaufhaltsam wieder dem zu gleichen beginnt, das man vor 1914 hatte, wobei man sich ja kaum verhehlen kann, daß das Bild von vor 1914 trotz aller Schattenseiten in sich sinnvoller und hoffnungsvoller war." (273) Wird Barth zu Recht mit der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 in Verbindung gebracht (er war einer ihrer Autoren), so verwunderlich (aber auch erklärlich) ist es, dass die Synode selbst kein Thema der Briefe ist - zwar schreibt Barth zwei Postkarten (vgl. 357-360), aber die räumliche Nähe von Wuppertal-Barmen zu Bonn war wohl zu groß, als dass sich ein ausführlicher Bericht gelohnt hätte. Anders sieht es dagegen mit Berichten von Kirschbaums aus, die diese von der "Theologischen Arbeitstagung" des Reichsbruderrats der Bekennenden Kirche in Bad Oeynhausen (15.-17. Januar 1935) erstattete: Barth war zu einem Urlaub und zur Vorbereitung seiner späteren Rückkehr in die Schweiz aufgebrochen, und von Kirschbaum vertrat ihn auf der Tagung und beschreibt sehr lebendig den Ablauf und die Begegnung mit verschiedenen Theologen (vgl. 421-425; 427-435; 438-454).
Bemerkenswert sind auch die hin und wieder eingestreuten Charakterisierungen theologischer Zeitgenossen. So charakterisiert er den späteren Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Joachim Beckmann: "Beckmann freilich muß ein reichlich unehrlicher Mann sein." (Brief vom 5. Juli 1935, 533f.). Über seinen theologischen Weggefährten und Freund, den Berner Professor für Systematische Theologie Emil Brunner, der nach einer Streitschrift Barths diesen auf dem "Bergli" (dem Feriendomizil von Barths Freund und Gönner Rudolf Pestalozzi, auf dem Barth viel Zeit zum Schreiben verbracht hat), besuchte, schreibt Barth u.a.: "Die Diskussion mit Brunner war jedenfalls nicht ungut. [...] Aber irgendwo spinnt er und wird schwerlich ganz zu heilen sein." (Brief vom 30. Juni 1935, 503)
1935 wurde Barth nach dem verweigerten Eid auf Hitler und einer juristischen Auseinandersetzung, die Barth teilweise erfolgreich hinter sich brachte, in den Ruhestand versetzt und kehrte nach Basel zurück, wo für ihn eigens eine Professur eingerichtet wurde. Sein Weggehen hinterließ nicht nur in der theologischen Landschaft eine Lücke. So schreibt von Kirschbaum, die wegen einer Operation noch in Bad Honnef bleiben musste: "Eben war die Doktorsfrau von der Lungenheilstätte da. Auch sie ganz verstört, daß du weggehst. In Laienkreisen ist die Bestürzung, will mir scheinen, viel größer als bei den Theologen." (Brief vom 1. Juli 1935, 513)
Die Edition, die trotz der eingangs notierten generellen Bedenken nicht nur für Barthkenner lesenswert ist, ist wie alle Ausgaben der Barth-Gesamtausgabe hervorragend lektoriert. Daneben liefert sie versteckt sogar noch Korrekturen für eine Sonderausgabe von Barthbriefen (vgl. 301 Anm. 18). [3]
Ein Vorschlag für eine vom Herausgeber nicht zu klärende Bedeutung von drei griechischen Buchstaben sei an das Ende der Besprechung gestellt: Das Kürzel "i. bth" unter dem Datum eines Briefes von Kirschbaums vom 30. September 1934 (382, vgl. die Anm. 1) wird wahrscheinlich mit "im Bett" aufzulösen sein. [4]
Anmerkungen:
[1] Vgl. Karl Barth / Eduard Thurneysen: Briefwechsel, Bd. 1. 1913-1921, bearb. und hg. von Eduard Thurneysen, Zürich 1973, dass., Bd. 2. 1921-1930, a.a.O. 1974.
[2] Der "Zeddelkasten" ist ein Florilegium theologischer Literatur, an dem neben Barth und Kirschbaum auch eine Reihe Studenten mitwirkten, vgl. 77f. Anm. 2, sowie in Barths eigenen Worten 504 Anm. 5.
[3] Karl Barth: Briefe des Jahres 1933, hg. von Eberhard Busch u.a., Zürich 2004, 277.
[4] Bei der 373 Anm. 1 genannten, mutmaßlich verschollenen Postkarte könnte es sich um die Nr. 152 (371f.) handeln, die lediglich einem falschen Ort zugeordnet wird.
Görge K. Hasselhoff