Rezension über:

Melitta Becker (Hg.): Archiv am Netz (= Lesen am Netz; Bd. 2), Innsbruck: StudienVerlag 2009, 230 S., ISBN 978-3-7065-4217-3, EUR 24,90
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Rezension von:
Heike Helfert
Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Barbara U. Schmidt
Empfohlene Zitierweise:
Heike Helfert: Rezension von: Melitta Becker (Hg.): Archiv am Netz, Innsbruck: StudienVerlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/05/13850.html


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Melitta Becker (Hg.): Archiv am Netz

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Unter dem Titel "Archiv am Netz" wurden die Beiträge eines Workshops zu diesem Thema zusammengefasst. Er fand im Mai 2005 im Rahmen des EU-Projekts zur virtuellen Bibliothek readme.cc in Zusammenarbeit mit der ungarischen Kodolányi János University of Applied Sciences in Székesfehérvár statt. Trotz des relativ langen Zeitraums bis zur Veröffentlichung haben die Texte nicht an Aktualität verloren. Ausgehend vom Begriff des Archivs werden die nach wie vor relevanten Fragen zur Wissensökonomie in der Informationsgesellschaft aus verschiedenen Blickwinkeln herausgearbeitet. Das Buch ist als zweiter Band in der Reihe "Lesen am Netz" im StudienVerlag / Skarabaeus erschienen.

Inhaltlich orientiert sich diese Textsammlung nicht, wie der Titel vermuten lässt, an den klassischen Belangen der Archivkunde, sondern folgt disziplinübergreifend aus philosophischer, literaturwissenschaftlicher und soziologischer Perspektive dem Thema des Archivierens und seinen dynamischen Möglichkeiten im Internet. Die AutorInnen behandeln dabei weder praktische Probleme der Organisation der Schriftgutverwaltung noch Normen und Standards im Bereich des Dokumentenmanagements. So steht auch nicht die langfristige Aufbewahrung und Erhaltung von Informationen selbst im Vordergrund, sondern die Frage, wie deren Strukturierung Wissen erzeugt und modelliert. Dementsprechend werden in den Texten die grundlegenden Gedanken des Archivs im Sinne einer Wissensorganisation erörtert und ein breitgefächerter Überblick zu diesem Themenfeld geliefert. Dabei wird deutlich, inwiefern digitale Speichermöglichkeiten und Ordnungsstrategien die Eigenschaften von Archiven verändern. Archivierung von Wissen findet demnach nicht mehr in Form des klassischen statischen Aufbewahrens von Informationen statt, sondern dynamisch und vernetzt durch die Möglichkeiten des Internets. Besonders anschaulich schildert dies Wolfgang Ernst in seinem Artikel. Die AutorInnen dieses Bandes blicken zurück auf erste enzyklopädische Bemühungen und die historische Entwicklung von Wissensspeichern und skizzieren die heutige Entwicklung dynamischer Archive. Außerdem werden aktuelle Onlinearchive vorgestellt und in den Kontext einer Wissensgesellschaft eingeordnet. Im Zentrum der Beiträge stehen dabei mit wenigen Ausnahmen Aspekte der Archivierung von Texten. Die aktuellen Möglichkeiten audiovisueller Archive, die im Internet bzw. durch digitale Archivierungsstrategien eine neue Form gefunden haben, werden nur selten berührt.

Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel mit jeweils drei bis vier Artikeln zu den Schwerpunkten "Historische Enzyklopädische Utopien", "Wissensökonomie", "Digitale Gedächtniskunst", "Kunst am Netz" und "Verselbständigung des Wissens". Die einzelnen Texte werden im Anhang mit umfassenden Literaturhinweisen zu den jeweiligen Themen ergänzt. Von den insgesamt 17 Aufsätzen wird im Folgenden nur eine kleine Auswahl umrissen, die jeweils grundlegende Thesen zum Thema "Wissen und Archiv" verfolgen.

Wolfgang Ernst beschreibt aus informationstheoretischem Blickwinkel, dass "die technologische Struktur des Archivs auch die Struktur des archivierten Inhalts schon im Moment der Archivierung mitbestimmt." (58) Anhand des Wikipedia-Prinzips wird die Konstruktion eines generativen Archivs deutlich, das sich im Netz dynamisch entwickelt. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zum klassischen Archiv, das gerade von seiner Differenz zur Gegenwart lebt. Die Übertragung in ein Datennetzwerk hebt diese Differenz auf, denn "[a]us emphatischem Gedächtnis wird ein Arbeitsspeicher der Gegenwart. Damit korrespondiert eine Akzentverschiebung kultureller Zeichenzirkulation vom Speichern zum permanenten Übertragen: Datenmigration statt -archivierung." (70) Informationen ruhen demnach nicht mehr in einem vorstrukturierten Archiv mit read-only Charakter, sondern sind die Grundlage für eine generative Archivlektüre. Die Informationsabfrage selbst erzeugt den Inhalt, wie zum Beispiel bei der aktuellen Suche nach einer Zugverbindung, die zugleich auch die voraussichtliche Verspätung des Zuges ankündigt. Das Internet dient hier eher als Organisationsgedächtnis denn als Archiv. Wolfgang Ernst schließt mit dem Verweis auf die nicht hierarchisierte Ordnungsstruktur der Wissensorganisation im Internet: "Das Netz selbst wird zum Archivar: kein autoritäres Subjekt, sondern ein Mechanismus aus Diskurs und nicht-diskursiven Bedingungen [...] des Internet ist hier am Werk - ein im Sinne von Gilles Deleuze organloser Autor oder Korpus, das operative Archiv". (71) Aus soziologischer Perspektive führt Endre Kiss diese utopische Dimension des nicht hierarchisierten Archivs noch weiter, indem er in den zufällig zusammentreffenden Informationen ein von der Macht unabhängiges Wissen für möglich hält. Er räumt jedoch ein, dass diese Möglichkeit verschwindet, sobald "strukturierende Sinngebung im Wissen sich gleich als soziale Macht entlarvt." (53)

Martin Gierl, Rüdiger Gönner und Peter Haber widmen sich historischen Fragen des Ordnens und Zugänglichmachens von Wissen. Die Autoren reflektieren das humanistische Ideal, das gesamte Wissen der Welt zusammenzufassen, und arbeiten zugleich das Bewusstsein heraus, dass Wissen immer nur fragmentarisch sein kann. Sie spannen mit ihren Beiträgen einen Bogen von der Wissenschaftsgeschichte im 17./18. Jahrhundert (Gierl) zu der heutigen Informationsspeicherung im Internet (Haber). Haber zeigt auf, dass zum Entstehungsprozess von Wissen politische oder kulturelle Einflüsse ebenso zählen wie die Darstellung von Wissen oder dessen diskursive Ordnung, die eben erst durch menschliches Zutun entsteht. Wissen ist somit nicht absolut, sondern wird durch Austausch und Weitergabe von Information erzeugt. Diese Annahme unterscheidet Information von Wissen, was am Beispiel dynamischer Archive besonders deutlich wird.

Das Thema künstlerische Inhalte im Netz wird unter literatursoziologischen und kunstwissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet. Dabei werden nicht nur Fragen des literarischen Handelns (Gesine Boesken) und offener Diskurse (Karin Harrasser) im Internet untersucht, sondern auch ein Plädoyer für kunstwissenschaftliche Quellengenauigkeit im Umgang mit elektronischer Kunst formuliert. So beschreibt Johannes Gfeller in seinem Beitrag den spezifischen Werkcharakter elektronischer Kunstwerke und leitet daraus konservatorische Strategien für einen werkgemäßen Umgang mit medienkünstlerischen Arbeiten ab. Durch die materielle Nähe des Werks zum Repräsentationsmedium besteht eine unweigerliche Verwechslungsgefahr zwischen Original und Reproduktion. Daher unterscheidet Gfeller klar zwischen Informationsträger, Werkträger und Bildträger sowie den unterschiedlichen Formen einer Aufführung wie Uraufführung und Wiederaufführung. Außerdem weist er auf den meistens damit verbundenen Medienwechsel hin. Um zu einer möglichst großen Werktreue zu gelangen, könnten als Lösungsansatz künftig zwar technische Verbesserungen zur Steigerung der Bildqualität beitragen. Dennoch kommt er - entgegen der viel diskutierten These der Immaterialität elektronischer Kunst und der damit verbundenen Auflösung des Originalbegriffs - zu dem klassischen kunsthistorischen Schluss: "In einer ernsthaften kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzung führt kein Weg am Original vorbei." (151)

Insgesamt umfasst dieser Sammelband eine breite Auswahl sehr heterogener Texte. Der grundlegende Überblickscharakter des Bandes stützt sich jedoch eher auf die allgemein wissenschaftstheoretischen Ansätze als auf die themenspezifischen Einzelbetrachtungen. Die Vielfalt der wissenschaftlichen Perspektiven spielt dabei eine größere Rolle als die Vielfalt der inhaltlichen Motive. Beim Thema "Archiv am Netz" liegt eine digitale Aufbereitung der vorliegenden Beiträge für das Internet nahe und ist auch tatsächlich in Vorbereitung. Unter der Webadresse http://lesenamnetz.org/php/ wird eine Website zum Buch angekündigt, "auf der die geschlossenen Textformen miteinander verlinkt, aufgesprengt und bespielt werden können." Dies verspricht die praktische Auseinandersetzung mit Fragen des Ordnens und Verstehens im Medienzeitalter.

Heike Helfert