Arnold Bartetzky / Marina Dmitrieva / Alfrun Kliems (Hgg.): Imaginationen des Urbanen. Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa, Berlin: Lukas Verlag 2009, 332 S., ISBN 978-3-86732-022-1, EUR 36,00
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Marina Dmitrieva / Heidemarie Petersen (Hgg.): Jüdische Kultur im Neuen Europa - Wilna 1918-1939, Wiesbaden: Harrassowitz 2004
Arnold Bartetzky (Hg.): Geschichte bauen. Architektonische Rekonstruktion und Nationenbildung vom 19. Jahrhundert bis heute, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017
Marina Dmitrieva / Karen Lambrecht: Krakau, Prag und Wien. Funktionen von Metropolen im frühmodernen Staat, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2000
In dem vorliegenden Band werden 13 Beiträge aus Disziplinen der Literaturwissenschaften, Architekturgeschichte, Kunstgeschichte und Anthropologie vorgestellt, die auf dem Forschungsprojekt "Imaginationen des Urbanen in Ostmitteleuropa. Stadtplanung - Visuelle Kultur-Dichtung" des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas der Universität Leipzig sowie einer angegliederten Vortragsreihe basieren. In dem Zeitfenster von 1945 bis heute werden Entwürfe und Vorstellungen von Urbanität im weitesten Sinne untersucht. Appliziert auf die unterschiedlichen Genres der Architektur und Stadtplanung, der Literatur, des Films und der bildenden Kunst, wird ein sehr weiter Bogen gespannt.
Dem komplexen Anspruch des Titels des Sammelbands entsprechend deckt Marina Dmitrieva in ihren Betrachtungen zu Visionen, Konzeptionen von Architekten und Stadtplanern sowie den Werken bildnerischer Künstler ein Phänomen auf, das wiederholt die Avantgarde fasziniert. Dmitrieva legt in ihrem Beitrag zu den "Vysotki" (131) in Moskau die direkte Nähe der Hochhausutopien Stalins nach amerikanischem Vorbild zur gegenwärtigen Moskauer Baupolitik offen, die eben diesen lang verfemten Größenwahnsinn wieder aufgreift. Sehr detailliert und kenntnisreich geht sie auf die Ursprünge der stalinistischen Architektur ein, ohne dabei die Verbindungen zwischen bildender Kunst und realer Bautätigkeit auszulassen. Sinnvoll wäre vielleicht noch ein Hinweis auf Wiederaufbauplanungen anderer Städte gewesen, die direkt unter dem Einfluss dieser sowjetischen Stadtplanungen sowie Höhendominanten standen.
Mit dem Roten Platz als einem weiteren Moskauer Beispiel beschreibt Andreas Gurski die verschiedenen Wahrnehmungen des Ortes in unterschiedlichen politischen Zeitspannen. Anhand dreier Gemälde von Konstantin Juon, die innerhalb von zwanzig Jahren entstanden sind, zeigt Gurski geschickt die Entwicklung des Platzes als Versammlungsort zum politischen Machtzentrum auf, das allerdings im Alltag eine Leere darstellte und nur zu festlichen Anlässen eine geordnete Zurschaustellung und Machtrepräsentation offenbarte. Durch Bezüge zu den Agitatoren der Macht - Stalin, der den Roten Platz mied - fängt Gurski sehr eindrücklich die bestehenden Atmosphären ein und führt in die heutige Neueroberung eines ehemals verbotenen Territoriums durch die Bevölkerung über. Ebenso weist er auf das Exempel des Roten Platzes für viele Stadträume des sowjetischen Machtbereiches hin.
Einer davon ist der Alexanderplatz. Paul Sigel fasst dessen Entwicklung vom Paradeplatz über die Funktion als Verkehrsknotenpunkt zum Zentrum von Ostberlin durch den Bau des "Haus des Lehrers" von Hermann Henselmann und dem in nächster Nähe positionierten Fernsehturm äußerst differenziert zusammen. Zur Wendezeit folgt der Abstieg zum "Unort" (106), gleichzeitig Beginn der durch Idealvorstellungen geleiteten Stadtplanungspolitik der 1990er-Jahre. Das Bestehende bewusst ignorierend, werden amerikanische Leitbilder und weitere Landmarks präferiert, die das Image einer Weltmetropole ausstrahlen sollen. Diese Leitbilder werden nur in Teilen realisiert und werfen heute tiefe Schatten auf den von der Bevölkerung wiederentdeckten Platz, der nun kaum noch ein Ort historischer Bezüge darstellen kann. Zu Recht stellt Paul Sigel in Frage, ob die neuen Bauten Ursache der heutigen positiven Entwicklung des Platzes sind oder ob sie eine Begleiterscheinung des Zeitgeistes darstellen.
Am Beispiel der Planungen zum Wiederaufbau der Hauptstädte Warschau und Ost-Berlin nach sowjetischem Vorbild veranschaulicht Arnold Bartetzky eindrucksvoll sowohl Divergenzen als auch Dissonanzen in der Wiederaufbaupolitik der Nachkriegsjahre und der Vorbildfunktion der Sowjetunion verbunden mit der Rolle von Entscheidungsträgern wie Walter Ulbricht. Im Gegensatz zur zeitgenössischen Forschung legt Bartetzky seinen Schwerpunkt auf die mediale Propaganda zur städtebaulichen Entwicklung der beiden Prestigeobjekte nach stalinistischem Vorbild. Die politische Vermarktung galt einerseits der staatlichen Legitimation, andererseits der Verankerung des realsozialistischen Gedankenguts in der Bevölkerung und ihrer Bindung an den Staat. Mit seinen propagandistisch ausgeschlachteten Wohnungsbau-, Konsum- und Kulturbauprogrammen suggerierte der Staat der Bevölkerung seine Versorgerrolle, sobald diese sich mit ihm identifizieren würde.
Xavier Galmiche untersucht in Bohumil Hrabals Montage »Diese Stadt steht in der Obhut ihrer Bewohner« Zitate, die Hrabal aus für Prag identitätsstiftenden Texten, Abhörprotokollen sowie Straßengesprächen fragmentarisch entnommen und neu verbunden hatte, sodass sie ein neues Bild erzeugten. Im Zusammenhang erhielten die Fragmente eine neue und andere Kraft. Es entstünden neue Bilder der Stadt, stetige und veränderte Atmosphären würden aufgefangen. Galmiche macht deutlich, dass die Wahrnehmung einer Stadt sich aus den verschiedensten Elementen zusammenfügt. Teile werden von Zeit zu Zeit überschrieben, wirken aber in Fragmenten noch über die Zeit hinweg weiter.
Zu einem anderen Ergebnis kommt Anne Cornelia Kenneweg, die die Ambivalenz und gegenseitige Bedingtheit des krisengeschüttelten Belgrads der 1990er-Jahre und seiner Bewohner in den Romanen und Manifesten von Vladimir Pištalos aufzeigt. In »Ich bin Belgrad« seien es die Protagonisten, die sich mit dem Ort ihrer Heimat identifizierten. Sie würden ihre eigene Wirkung erkennen, einen Ort zu prägen und verbänden diesen mit einem bestimmten Personenkreis. Losgelöst von der baulichen Umwelt, würde so jeder einzelne seinen eigenen Blick auf die Stadt, ihre Atmosphäre und Wirkung entwickeln.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass in allen Beiträgen die zentralen Themen Macht und Kontrolle durch bauliche Gestalt und Aufwertung sowie Wahrnehmung dieser manifestierten Umwelt vorherrschen. Reflektiert in Bild, Literatur und Film sind sie immer gekoppelt mit der sozialistischen Ideologie und deren bedrohlichen Auswirkungen bis in den Alltag hinein. Dies wird insbesondere in der Auseinandersetzung von Eva Binder zu Filmen in Moskau, bei der "die flüchtig eingefangene Hauptstadt Moskau ständig präsent" (190) ist und Macht konnotiert, sowie in den von Gábor Gelencsér untersuchten ungarischen »Wohnungsfilme(n)« deutlich. Diese offenbaren, wie sehr der sozialistische Machtapparat seinen Einfluss auf den Alltag jedes einzelnen ausübt und dass sich diesem im urbanen Kontext keiner entziehen kann.
Der Titel des Sammelbandes offeriert eine Gesamtschau und noch mehr einen Vergleich der verschiedenen Stadtplanungstheorien und Konzepte in Mittel- und Osteuropa, die jedoch nicht erfolgen. Vielmehr erscheint diese Publikation lediglich als eine Ansammlung verschiedener, in einem sehr weit gefassten Rahmen thematisch passender Beiträge, die sich zudem leider nur bedingt aufeinander beziehen. Dies ist keineswegs eine Kritik an den einzelnen Beiträgen an sich, sondern an dem nicht vorhandenen dezidierteren Schwerpunkt der Publikation. Noch viel schwerer wiegt die fehlende Vermittlung der erfolgten Auswahl. Die Reihenfolge der verschiedenen Aufsätze ist nicht nachvollziehbar, es mangelt an jeglicher Einteilung nach inhaltlichen oder geographischen Zusammenhängen oder Genres. Dies ist äußerst bedauerlich, da Inhalte und durchaus bestehende thematische Beziehungen nur schwer erkennbar sind. Die Chance, die große Qualität einzelner Beiträge über den reinen Akt der Veröffentlichung hinaus herauszuarbeiten, ist leider vertan worden.
Christiane Fülscher