Henri Zerner / Marc Bayard: ¿Renaissance en France, renaissance française?, Paris: Somogy éditions d'art 2009, 390 S., ISBN 978-2-7572-0173-2, EUR 25,00
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Es ist eine in der Forschung seit langem umstrittene Frage, ob die Kunst der französischen Renaissance ein reines Derivat der italienischen sei und damit ein ausschließliches Produkt des - sowohl stilistischen wie personellen - Italienimports. Oder ob eine autochthone und / oder spezifisch nationale Formentwicklung erkennbar wird, die sich der politischen Situation und den sehr individuellen kunstfördernden Maßnahmen der französischen Könige in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verdankt. Hieraus resultiert die weiterführende Frage nach den Auswirkungen eines Kunstphänomens wie der legendären "ersten Schule von Fontainebleau" auf die weitere Kunstentwicklung in Frankreich. Während die französische Hofkultur und königliche Kunstförderung sowie die stilistischen wie politischen Implikationen der italienischen Manieristen in Fontainebleau unter François Ier mittlerweile recht gut erforscht sind [1] und auch erste vielversprechende Ansätze für die Regierungszeit von Henri II vorliegen [2], sind für die zweite Jahrhunderthälfte weiterhin große Forschungslücken zu beklagen.
Der vorliegende Sammelband, der aus einer Tagung an der Académie de France in Rom hervorgegangen ist, möchte diese Lücken wenigstens ansatzweise schließen. Verdienstvollerweise versuchen die Herausgeber Henri Zerner und Marc Bayard, mit diesem Kolloquiumsband ein Gegengewicht zu dem seit der letzten Jahrhundertwende in der französischen Forschung hartnäckig kursierenden, nationalistisch aufgeladenen Dekadenzverdikt gegenüber der italienisch-manieristisch geprägten französischen Kunst zu schaffen.
Die Einleitung des Bandes zeigt Spezifika der französischen Renaissance auf und formuliert dabei eine Fülle spannender Fragen: So die nach der französischen Renaissance als genuin europäischem Phänomen; nach der in Frankreich besonders ausgeprägten Vielfalt der Gattungen, die dazu tendiert, "hohe" und "niedrige" Genres zu nivellieren, was wiederum zur Relativierung der Vorherrschaft der Malerei als Leitgattung führt; die Frage nach der mehrfach sogenannten "polyvalence artistique" vieler französischer Renaissancekünstler, die in den unterschiedlichsten Kunstgattungen tätig waren; nach dem Fehlen einer die Kunstproduktion flankierenden Kunsttheorie; nach der notwendigen Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes über die Grenzen von Paris und der Île-de-France hinaus; endlich nach dem erstaunlichen Ausbleiben einer eigenständigen Traditionsbildung aus den Vorgaben der Schule von Fontainebleau.
Dass sich trotz dieses breiten Spektrums an interessanten Themen ein Großteil der Aufsätze lieber auf das verdienstvolle, wenn auch nicht immer mit höchstem Anregungspotenzial verbundene Geschäft der "Attribuzzlerei" (Jacob Burckhardt) einlässt, liegt in der Natur der Sache. Wo es gilt, eine terra incognita zu erschließen, müssen vor allem weitere Werkcorpora erstmalig umrissen und einzelne, häufig wenig bekannte Künstlerpersönlichkeiten klarer konturiert werden: Neben Étienne Dupérac (Emmanuel Lurin), Jean Cousin d.Ä. (Dominique Cordelier) und Jean Goujon (Guy-Michel Leproux) werden hier Étienne Delaune (Valéria Auclair), Nicolas Bachelier (Bruno Tollon), Henri Lerambert (Cécile Scailliérez) oder Euvrard Bredin (Magali Bélime-Droguet) neue Werke zugeschrieben.
Dieses harte Brot der Zu- und Abschreibungen überzeugt je nach Standfestigkeit der Hypothesenbildung und Quellenlage mal mehr, mal weniger: Marianne Grivel kann bei ihrem Versuch einer möglichst präzisen Unterscheidung zwischen den Werken von Jean Rabel père et fils, die sie überhaupt erstmals als zwei zu unterscheidende Künstler identifiziert, auf eine 20-jährige Forschungstätigkeit zurückblicken. Insofern ist ihr in höchstem Maße quellengesättigter, detektivischer Rekonstruktionsversuch überaus plausibel. Zudem markiert Grivel wissenschaftlich präzise diejenigen Stellen, an denen belegtes Wissen hypothetisch wird.
Das ist in anderen Beiträgen nicht unbedingt der Fall: Dort werden wie beispielsweise im Aufsatz von Philippe Lorentz über "La place du peintre dans les arts visuels en France au XVe siècle" munter Zuschreibungshypothesen entwickelt und aufeinandergetürmt, denen dann unter der Hand Evidenz zukommen soll. Auch die als Korrektiv notwendige Frage, wie tragfähig die Methode der Stilanalyse bei Werkcorpora sein kann, die häufig nur wenige gesicherte Stücke aufweisen - so im Falle der französischen Renaissancetapisserie (Pascal-François Bertrand) - wird nicht gestellt. Überhaupt werfen die Aufsätze nur in den seltensten Fällen systematische oder methodenkritische Grundsatzfragen auf.
Mehrere Beiträge beschränken sich darauf, Forschungsdesiderate zu markieren, ohne ihnen auch nur ansatzweise abzuhelfen. Die brisante Frage, ob sich die ebenfalls noch nicht hinreichend präzise herausgearbeitete Haltung von Henri II im Hinblick auf die Gegenreformation in den Kappellenausstattungen der königlichen Residenzen manifestiere, beantwortet Thierry Crépin-Leblond nicht, sondern ermuntert den Leser nur, "à poursuivre la réflexion et la recherche sur la face religieuse de l'idéologie monarchique française, au moment où s'élaborent les fondements de la Contre-Réforme" (223).
Doch es gibt auch erfreuliche Ausnahmen, in denen sich die Materialerschließung mit hermeneutischen Bemühungen paart: Estelle Leutrat interpretiert klug Beispiele religiöser Lyonnaiser Druckgrafik aus der Zeit der ersten Religionskriege als Ausdruck einer irenischen oder indifferenten konfessionellen Haltung ihrer Erfinder. Luisa Capodieci gibt aufbauend auf den Vorarbeiten von Anne-Marie Lecoq [3] eine überzeugende Deutung der Ikonografie der Salle de bal in Fontainebleau, die in ihren politischen Dimensionen wie auch in ihrer absichtsvollen Ambiguität gewürdigt wird. Rebecca Zorach schließlich untersucht die Druckgrafik von französischen und frankophonen Künstlern des 16. Jahrhunderts als konkretes Fallbeispiel für Rom- und Antiken-Rezeption. Ihre originelle These lautet: Die Druckgrafik war ein probates Mittel, um ein Rom-Bild visuell und schriftlich zu dokumentieren, das dann auf dieser dokumentarischen Basis nördlich der Alpen in spezifischer Transformation virtuell wiedererstehen konnte. Die Stiche wurden damit zu "disséminateurs d'une typologie visuelle de Rome" (62); sie ermöglichten den Akt der "Re-Naissance française" überhaupt erst, wie Zorach besonders plastisch anhand der von Léonard Thiry entworfenen Phantasie-Rekonstruktionen römischer Architekturen zeigen kann.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Henri Zerner: L'art de la Renaissance en France. L'invention du classicisme, Paris 1996; Rebecca Zorach: Blood, Milk, Ink, Gold. Abundance and Excess in the French Renaissance, Chicago / London 2005; Christine Tauber: Manierismus und Herrschaftspraxis. Die Kunst der Politik und die Kunstpolitik am Hof von François Ier, Berlin 2009.
[2] Vgl. den Sammelband: Henri II et les arts. Actes du colloque international [École du Louvre et Musée National de la Renaissance, Ecouen 1997], hg. von Hervé Oursel / Julia Fritsch, Paris 2003.
[3] Anne-Marie Lecoq: L'iconographie de la salle de bal à Fontainebleau. Une hypothèse de lecture, in: Henri II et les arts, hg. von Hervé Oursel / Julia Fritsch, Paris 2003, 381-408.
Christine Tauber