Alexander König: Wie mächtig war der Kaiser? Kaiser Wilhelm II. zwischen Königsmechanismus und Polykratie von 1908 bis 1914 (= HMRG. Historische Mitteilungen im Auftrage der Ranke-Gesellschaft; Bd. 73), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 317 S., ISBN 978-3-515-09297-5, EUR 58,00
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Die Geschichte des deutschen Kaiserreichs, die politische zumal, kann fast ohne Einschränkungen als gut erforscht gelten. In den letzten Jahren sind nahezu alle größeren Parteien eingehend betrachtet und Fragen der politischen Partizipation und des Wahlrechts sowie die Massenmedien intensiv untersucht worden. Über die unmittelbare politische Spitze des Reiches, d.h. den Kaiser und seine Umgebung, existiert ohnehin reichhaltige Literatur. Mit dem dritten und abschließenden Band von John Röhls monumentaler Kaiserbiografie ist das wesentliche Material aufgearbeitet, wenn auch vielleicht noch nicht das letzte Wort gesprochen. Gleichwohl ist die Frage, wie das Kaiserreich eigentlich regiert wurde, noch von erheblicher Relevanz - will man nicht unterstellen, dass sie angesichts der notorisch dysfunktionalen Konstellation um den Kaiser gar nicht systematisch zu beantworten ist. Hier setzt die Studie von Alexander König an, die eigentlich zwei, nicht immer ganz kongruent zueinander zu untersuchende Fragen beantworten will: Wie veränderte sich die Herrschaft Wilhelms II. nach der Krise der Monarchie 1908 und, allgemeiner, wie regierte Wilhelm II.?
Die 'Vertigo Years' (Philipp Blom) unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg sind in der politikgeschichtlichen Forschung zum Kaiserreich unterrepräsentiert, auch bei Röhl, dessen dritter Band von König offenbar nicht mehr berücksichtigt werden konnte. König stützt sich auf umfangreiche Recherchen, die die archivalische Überlieferung des Zivil- und Marinekabinetts - die Bestände des Militärkabinetts sind weitestgehend zerstört - ebenso einschließen wie die mittlerweile ebenfalls umfangreichen Editionen einschlägiger Archivbestände, Erinnerungen der wesentlichen Akteure und die veröffentlichte Meinung. Methodisch ist die Arbeit einer klassischen Politikgeschichte verpflichtet, bezieht sich allerdings häufig auf Niklas Luhmanns Überlegungen zu Funktionen und Folgen formaler Organisation und Max Webers Denkfigur der 'Machtchancen'.
Die Arbeit beginnt mit einem Kapitel zur öffentlichen Wahrnehmung Wilhelms II. Dies ist sinnvoll, da die öffentliche Wirkung des Monarchen gleichzeitig begrenzender wie ermöglichender Faktor kaiserlichen Einflusses war. König nennt einige schlagende Beispiele für die fortlaufende Berücksichtigung öffentlicher Reaktionen - bis hin zur direkten Einbeziehung lautstarker und öffentlichkeitswirksamer Organisationen wie dem Alldeutschen Verband in die Reichspolitik. Gleichzeitig war der Kaiser vor allem durch seine öffentlichen Äußerungen eine Kalamität mit direkten politischen, auch außenpolitischen Folgen. Dieses Problem spitzte sich insbesondere in der Daily-Telegraph-Affäre noch weiter zu. Nach 1908 musste sich Wilhelm II. öffentlich erheblich zurückhalten und tat dies, wie bekannt, auch grosso modo. König vermag nun anhand zahlreicher Beispiele zu zeigen, wie hier weniger die (wohl nur zeitweise vorhandene) Einsicht Wilhelms II. eine Rolle spielte, als vielmehr eine professionalisierte Abschirmung des Kaisers von der Öffentlichkeit durch den Reichskanzler und die Umgebung des Monarchen.
Sowohl auf der Ebene des preußischen Staatsministeriums als auch - unausgesprochen - im Verhältnis der Presse zum Kaiser wurde gewissermaßen ein informeller Pakt geschlossen, der ein angemessenes Verhalten Wilhelms II. voraussetzte und unter dieser Voraussetzung weiterreichende Konsequenzen für den Monarchen vermied. Dieses Arrangement funktionierte, wie König zeigt, bis zu einem gewissen Grade. Allerdings kamen auch Stimmen auf, die ein stärkeres Eingreifen des Herrschers zugunsten der jeweils intervenierenden Gruppen forderten.
Die folgenden beiden Kapitel widmen sich der Innenpolitik. König untersucht sowohl den Anteil Wilhelms II. an der Gesetzgebung als auch an Personalentscheidungen. Aufgrund enger verfassungsrechtlicher Grenzen und der Komplexität der Materie war ersterer eher gering. Die Innenpolitik war weitgehend in den Händen Bethmann Hollwegs zentralisiert. Die Personalpolitik blieb hingegen, wenn auch nie konsequent, stark von monarchischen Eingriffen geprägt. Dies gilt in besonderem Maße für das Militär- und Marinekabinett. Als Ausdruck der insbesondere im Bereich des Militärischen bewahrten Gestaltungsmöglichkeiten des Monarchen ist der Einfluss dieser Kabinette immer wieder herausgestellt, kaum aber konsequent untersucht worden. Wenn, dann lässt sich hier, an der Scharnierstelle zwischen Kaiser und Verwaltung, das Funktionieren der wilhelminischen Monarchie konkret greifen. Tatsächlich gelingen König plastische Schilderungen, die die vielfältigen Handlungsoptionen der engeren Hof- und Regierungskreise im Umgang mit Wilhelm II. aufzeigen. Diese reichten vom Ignorieren kaiserlicher Anordnungen bzw. dem Durchsetzen eigener politischer Ideen während dessen Abwesenheit bis hin zum vorauseilenden Gehorsam.
Für den Untersuchungszeitraum konstatiert König fast durchgehend ein reagierendes Verhalten Wilhelms II. auf verschiedene Initiativen der Reichsleitung und kaum eigene Initiative. König sieht einen Grund in der Besetzung von Kernpositionen durch Personen, die das Vertrauen Wilhelms II. besaßen - und daher vermeintlich ohnehin in dessen Sinne agierten. Andererseits machte schon die Komplexität der stetig wachsenden Regierungsbereiche eine Konzentration nötig. Bis 1914 unterschrieb Wilhelm II. jedes Jahr ca. 10.000 - meistens eher unbedeutende - Akte. Die Versuche, die Anzahl der durch den Kaiser zu entscheidenden Fragen zu verringern, um die Regierungsmaschinerie - nicht zuletzt angesichts der ausgedehnten Abwesenheiten Wilhelms II. - funktionsfähig zu halten, sind kaum zu überblicken. Einen manifesten Einschnitt erkennt König allerdings erst mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, als systematisch einzelne Bereiche untergeordneten Instanzen zur Entscheidung überlassen wurden, ohne dass damit die mangelhafte Koordination an der Spitze des Reiches beseitigt worden wäre.
In einem abschließenden Kapitel untersucht König schließlich die außenpolitischen Einwirkungsmöglichkeiten Wilhelms II. Analysiert werden hier die wichtigsten Ereignisse von der Bosnien-Krise 1908 bis zum Heeresrüstungsgesetz von 1912, d.h. der Kriegsbeginn und die seit Langem kontrovers diskutierte Rolle Wilhelms II. in der Julikrise werden nicht mehr erfasst.
Die Stärken von Königs Studie liegen zweifellos in den Passagen mit sehr detaillierten Analysen der Regierungspraxis. Eine entschiedene Neuinterpretation des Kaisertums Wilhelms II. ist nicht intendiert. Untersucht wird ein kurzer und sehr spezifischer Ausschnitt der wilhelminischen Herrschaft, der nur bedingt allgemeine Rückschlüsse auf die sehr pauschale Frage zulässt, wie 'mächtig' der Kaiser war. Durch die genaue Rekonstruktion der Abläufe zwischen Verwaltung und Monarch erschließt König allerdings durchaus eine neue Ebene. Hier wird, gewissermaßen aus dem Blickwinkel der Kabinette, noch einmal deutlich, wie das Regierungssystem des Kaiserreichs sowohl an einem überforderten, die notwendige Koordination nicht bewältigenden Monarchen litt, als auch an nie gelösten organisatorischen Inkongruenzen im Gefüge der wichtigsten preußischen bzw. Reichsinstitution. In diesem Sinne liefert König nicht nur einen vermittelnden Ansatz zur andauernden Diskussion zum 'persönlichen Regiment' zwischen den im Titel anklingenden Positionen Röhls (Königsmechanismus) und Hans-Ulrich Wehlers (Polykratie), sondern auch einen Beitrag zur Debatte um die Zukunftsfähigkeit des politischen Systems des Kaiserreichs.
Martin Kohlrausch