Olaf Wagener u.a. (Hgg.): Die imaginäre Burg (= Beihefte zur Mediaevistik. Monografien, Editionen, Sammelbände; Bd. II), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009, 216 S., ISBN 978-3-631-58008-0, EUR 36,00
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Tagungen mit dem Thema "Burg" gehören nicht gerade zu den seltenen Phänomenen der deutschen Forschungslandschaft. Neben den regionalen Symposien, die meistens die nachhaltigeren - weil von sich aus eingegrenzt und tiefergreifende Ergebnisse hervorbringend - sind, steht eine Vielzahl, die sich um die Untersuchung mutmaßlich übergreifender Aspekte bemühen. So verdienstvoll diese letztere Methode im Ansatz auch sein mag, so birgt sie selbstredend eine ihr innewohnende Problematik, die sich überspitzt in zwei Stichpunkten zusammenfassen lässt: 1. Die zur Verfügung stehende Menge an Quellen ist qualitativ wie quantitativ zu gering sowie ohnehin zu schlecht erforscht und (dadurch nicht unwesentlich bedingt) 2. keine der aufgestellten Thesen mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit entbehrt einer oder mehrerer Ausnahmen. Ungeachtet dieser Problematik nimmt die Zahl der Tagungen dieser Art stetig zu, wobei die Themen in Ermangelung wirklich neuer Ansätze inzwischen manches Mal ins Exotische hineinreichen.
Der nun vorliegende Band "Die imaginäre Burg" vereinigt zehn auf der gleichnamigen, von Peter Dinzelbacher im Jahr 2007 im österreichischen Werfen organisierten Tagung gehaltene Beiträge. Dabei verdient es zunächst Respekt, dass die vier Herausgeber das Erscheinen des Bandes innerhalb von weniger als zwei Jahren bewerkstelligen konnten, was keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt.
Irritation ruft allerdings der Titel hervor: "Die imaginäre Burg" - das Adjektiv "imaginär" steht nicht in Anführungszeichen - würde wörtlich übertragen nichts anderes als "Die eingebildete (= in der Vorstellungswelt existierende) Burg" heißen. Im Vorwort der Herausgeber findet sich die vermeintliche Erklärung: "Nur wer das mentalitätsgeschichtliche Phänomen Burg erforscht und verstanden hat, kann auch erklären, wie das Bild der Burg entstanden ist und vor allem, warum die Bauten ihr spezifisches Aussehen erhielten" (7). Tatsächlich geht es also um das Bild der Burg, was zweifelsohne der treffendere Titel gewesen wäre. Die weiterführenden "Prolegomena" von Heiko Laß, der sich der mutigen und auch undankbaren Aufgabe unterzogen hat, eine Art Einleitung zu geben, sorgen allerdings nicht für erhellende Erkenntnisse, sondern im Gegenteil für Konfusion: "Wichtig ist das Bild der Burg an sich. Welche Vorstellungen wurden mit der Burg verbunden? Es geht also darum, welche Bedeutung die Burg im Mittelalter hatte. [...] Hier werden keine Quellen für die Burgenforschung untersucht, sondern hier wird Mentalitätsgeschichte betrieben." Die Antwort auf die zwangsläufig folgende Frage, inwieweit eine Untersuchung im Sinne der ohnehin schillernden und nicht unumstrittenen Mentalitätsgeschichte ohne jede Quelle, sei sie schriftlicher, baulicher oder sonstiger Natur, denn überhaupt möglich ist, bleibt Laß - kaum verwunderlich - schuldig.
Glücklicherweise halten sich die nachfolgenden Einzelbeiträge großteils keineswegs an diese "Vorbemerkungen". So untersucht zunächst Eckart Olshausen in aller, wenn nicht sogar zu großen Kürze die Vorstellung von Burgen in der Antike (17-25), wobei er sich für seinen Überblick erfreulicherweise direkt auf relevantes Schriftquellenmaterial stützt. Die von ihm aufgestellte funktionale Gliederung in schutz- und prestigeorientierte sowie als Herrschafts- und Verwaltungsinstrument dienende Burgen wird man ohne Weiteres auf das Mittelalter übertragen können.
Im Anschluss widmet sich Olaf Wagener der symbolischen Zerstörung von Befestigungen im Mittelalter (27-52) und setzt damit eine Thematik fort, die er bereits mehrfach an anderer Stelle begonnen hatte. So eindrucksvoll und richtig Wageners Überlegungen zu seinen willkürlich ausgewählten Beispielen im Einzelnen meist sind - insbesondere zur Zerstörung und unmöglichen eindeutigen Identifizierung von Burg Sayn 1152 -, so wenig gehören Stadt- oder Ortsbefestigungen angesichts des Tagungsthemas in diesen Zusammenhang. Auch die nicht nur stillschweigende, sondern gar zur Argumentation dienende Benutzung von Übersetzungen, in diesem Fall derjenigen des "Chronicon" Thietmars von Merseburg, ist angesichts einer durchaus guten Edition in der Nova Series der Scriptores der Monumenta Germaniae Historica und sogar der Möglichkeit zur Einsichtnahme der Dresdner Handschrift auf den Internetseiten der MGH verwunderlich.
Im mit Abstand längsten und nachdrücklichsten Beitrag widmet sich Thomas Kühtreiber der "Ikonologie der Burgenarchitektur" (53-92), indem er sich gleichsam den richtungsweisenden Arbeiten von Günther Bandmann anschließt. Seiner Ausdeutung der mittelalterlichen Burgenarchitektur nicht nur als profanes Status- und Repräsentationssymbol, sondern insbesondere auch als Zeichen sakramentaler Symbolik widerspricht in gewisser Weise Karl Brunner in seiner Studie über Burgen in der religiösen Symbolwelt (109-119), der angesichts älterer Wurzeln der Motive nicht zu Unrecht darauf verweist, dass man sehr "feinsinnig vorgehen [muss], wenn man aus der mittelalterlichen religiösen Symbolwelt auf Burgen zurückschließen will". In jedem Fall sollten Untersuchungen mit ähnlicher Zielsetzung zukünftig nicht nur für "aristokratische" Belange, sprich bei Adelsburgen, sondern auch bei Reichsburgen unter die Lupe genommen werden.
Weisen die Untersuchungen Kühtreibers und vor allem Brunners schon in diese Richtung, dann wird nachfolgend schnell klar, dass der Hauptteil von Tagung und Tagungsband aus Erträgen der Literaturwissenschaft resultiert. Überschneidungen und bemerkenswerterweise konträre Befunde sind dabei durchaus deutlich erkennbar: Während Peter Dinzelbacher die "Burg als erotische Metapher" an Hand von Schrift- und Bildquellen untersucht (93-108) und dabei besonders die Minne und "Minneburgen" nicht nur als literarisches Motiv in den Mittelpunkt rückt, widmet sich Christa Agnes Tuczay verlassenen Burgen, Wunderburgen und Spukschlössern in literaturwissenschaftlicher Manier mit Blick auf die höfische Literatur (121-137). In ähnlicher Weise konzentriert sich Siegrid Schmidt auf den Nibelungenstoff (139-158), wobei sie zum Ergebnis kommt, dass die Burg primär als Sitz der Macht stets eine zentrale Rolle spielt. Auch Wolfgang Beutin versucht in dieser Weise einen (langen, allerdings in seiner Stringenz nicht immer erkennbaren) Blick auf die Burg als Symbol oder Allegorie vornehmlich in romanischen Dichtungen (159-198), sowie abschließend Albrecht Classen auf gerade einmal 17 Druckseiten auf die Burg als Motiv in der gesamten Literatur des deutschen Spätmittelalters (199-216).
Resümierend gesteht der Rezensent, dass eine Beurteilung des Tagungsbands schwer fällt. Angesichts des allerorten vorherrschenden Mangels an fundierten (Einzel-)Studien zu Burgen und ihrem Umfeld und dem problematischen Trend zur Aufstellung möglichst allgemeingültiger Thesen mag die Leserschaft ein ungutes Gefühl beschleichen, wenn hier in "mentalitätsgeschichtlicher" Weise das psychologische Moment des Phänomens "Burg" bis hart ans Esoterische ausgedehnt wird. Demgegenüber ist es gewiss ein Verdienst der Initiatoren, die Aufmerksamkeit der Forschung wie auch der Öffentlichkeit auf bisher weniger bekanntes Terrain zu lenken. Und zweifellos bieten die einzelnen Beiträge - ungeachtet und nicht selten geradezu entgegen dem irreführenden Titel - weiterzuverfolgende, teils sogar unterhaltsame Anregungen unterschiedlichster Art.
Alexander Thon